MIT KUNST WIRKEN

von JOANNA WARSZA

 

Recherche im Takt der Nachrichten


Im Zuge unserer Recherchen konzentrierten wir uns auf politische und gesellschaftliche Ereignisse und darauf, wie Kunst auf sie reagiert. Wir reisten nach Ungarn, wo die rechte Partei Fidesz ein Monopol errichtet; nach Island, wo eine Künstlergruppe als Folge der Finanzkrise die Kommunalwahl in Reykjavík gewann; nach Russland, das von Anti-Putin-Protesten erschüttert wurde; nach Madrid, der Keimzelle der ¡Democracia Real YA! Bewegung; nach New York, wo Occupy Wall Street den Kampf weiterführt; nach Tunesien im Vorfeld der ersten freien Wahlen; und ins nachrevolutionäre Ägypten in einer Zeit postrevolutionären Aufruhrs. Diese Form kuratorischer Recherche ist unabhängig von Deadlines, der Jagd nach spannenden Portfolios und Atelierbesuchen. Wir suchten Kunst in zivilem Ungehorsam, in der Politik, in repräsentativer Staatskunst, in Erinnerungspolitik, in Formen kapitalistischer Aneignung und in pädagogischen Tätigkeiten, die oft als »schlechte« Kunst gelten. Wir untersuchten, wie Kunst in Gesellschaft aufgeht: wie sie ihr Potenzial für politische Aktion nutzt; und wo es neben Künstlern auch einfach Menschen gibt, die Kunst machen.

 

Voina als assoziierte KuratorInnen


Fragt man die Gruppe Voina, wo Kunst aufhört, werden sie sagen: nirgends. Ihre Praxis findet auf der Straße statt, in Ausschreitungen und Interventionen im Feld staatlicher Macht. Leo, ein Mitglied von Voina, der auch einer unserer Kuratoren ist, setzte kürzlich einen Gefangenentransporter in Brand. Kunst ist für Voina Werkzeug und dient der Anwendung in unmittelbarer Aktion. Dabei nehmen Voina weder Aufträge noch Ausstellungseinladungen an, auch an kuratorischen Sitzungen in Berlin sind sie nicht interessiert. Sie leisten Widerstand gegen die russische Pseudo-Demokratie, wofür sie auf Hype setzen, auf symbolische Werte und Sichtbarkeit in den Medien. Sie leben ohne Geld in Sankt Petersburg und Moskau, die sie als ihre Schlachtfelder im Namen der Bürgerrechte verstehen. Unsere kuratorische Allianz mit Voina schafft eine Situation, in der die institutionellen Mittel der Berlin Biennale (Zugang zu Berichterstattung, Rechtsbeistand wie finanzielle Unterstützung) der Sache Voinas nutzen; sie sind dadurch wiederum als Künstler legitimiert und ihre Aktionen gelten als Kunst.

 

Kunststreik

Ein befreundeter Kurator sagte mir neulich: „Die Kunstwelt braucht jetzt nicht noch eine schicke Kunstmesse”. Was braucht sie dann, in einer Welt einiger hundert Biennalen, von denen viele behaupten, das Verhältnis von Kunst und Politik zu reflektieren? Während historischer Übergangsphasen nahm Kunst immer wieder eine Auszeit und ließ die Ateliers zurück, um sich Einspruch und Aktion zu widmen und damit die bestehenden ideologischen oder ökonomischen Doktrinen infrage zu stellen. Aus solchen Momenten ergab sich die Gründung des postrevolutionären russischen Produktivismus, des Arbeitsrats für Kunst 1918 / 19 in Deutschland, der 1969 in New York gegründeten Art Workers’ Coalition oder die Kunstdemonstrationen in Armenien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – um nur einige zu nennen. Davon inspiriert wenden auch wir uns von Selbstreferentialität ab und widmen uns wieder Nicht-Wissen und Aktion. Wir führen Aktivismus den symbolischen Mehrwert der Kunst zu, verstehen eine Karriere als  Form, sich einer Idee zu verschreiben, und brauchen keine teure E-Mail-Liste, um Informationen über Kunst zu verbreiten.

 

Performative Demokratie


Performativ wird Demokratie dann, wenn sie in kollektiver Aktion den eigenen Spielraum erweitert und neue Instrumente findet; wenn Entscheidungsprozesse für alle zugänglich sind, wenn daraus neue politische Handlungsmöglichkeiten und politisches Bewusstsein entstehen, in einer Feier demokratischen Karnevals. Wir suchten die Akteure dieser Veränderungen: Wir arbeiten mit Mitgliedern von Indignados, ¡Democracia Real YA!, Occupy Berlin, Occupy Frankfurt, der Bewegung 15M in Barcelona und mit den Künstlern von Occupy Amsterdam, die ihre Ateliers aufgaben, um ein Zelt im Camp in der Mitte der Stadt aufzuschlagen. Wir werden Besuch von Occupy Museums aus New York bekommen, die den Verbindungen zwischen Finanz- und Kunstwelt nachgehen. Indem wir Kollektive einladen, die zum jüngsten ideologischen Umbruch beigetragen haben, und ihnen die Ausstellungshalle der KW Institute of Contemporary Art als Vertretung überlassen, unternehmen wir eine Unterbrechung im business as usual – um uns selbst zu befragen wie auch die gegenwärtige Politik und unsere gemeinsame Rolle in dieser. Wir setzen Performativität als Mittel ein und treten der gängigen Ansicht entgegen, alles, was im Kunstraum stattfindet, sei per Definition fake und ohne Wirkung.

 

Bürgerkunst: Weder gute noch schlechte Kunst


Wir haben Arbeiten von Künstlern, Kuratoren, Politikern oder Kollektiven unterstützt oder produziert, die sich klar auf der gegenwärtigen politischen Landkarte verorten, reale Ereignisse verhandeln und Skeptizismus vergessen. Unter „Bürgerkunst” verstehen wir die Einmischung von Künstlern und Kulturproduzenten in gesellschaftliche Prozesse oder wirtschaftliche Transformationen. In Kairo trafen wir das Filmkollektiv Mosireen, das Proteste, Polizeimissbrauch und illegale Militärverfahren aufzeichnet und damit einen Informationsfluss über die andauernde Revolution im Ägypten nach Mubarak schafft. In Brasilien sprachen wir mit den Pixadores, urbanen Taggern, die die Straßen São Paulos mit einem Geheimalphabet füllen, das in radikaler Hinwendung zu gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Wahrnehmung die Forderungen der unteren Klassen artikuliert. Wir arbeiten auch mit Theaterleuten wie Árpád Schilling, dem Direktor der Gruppe Krétakör, der die bürgerliche Theaterpraxis zurückgelassen hat, um auf das zunehmend gedeihende rechte Gedankengut in Ungarn zu reagieren, sowie den russischen Dokumentargruppen Joseph Beuys Theater und Teater.doc, die als Überwachungsbehörden imperialistischer Politik agieren.

 

Politische Schönheit


Wir suchten nach seltenen Momenten „politischer Schönheit” in den heutigen kapitalistischen Demokratien, die an der Hegemonie des freien Marktes orientiert sind. Wir arbeiten mit Antanas Mockus, dem früheren Bürgermeister von Bogotá, der mit einer Politik von Anfeindungen bricht, oder zeigt, wie man Macht zurückgibt, indem er seinen Gegner bittet, eine Kampagne für ihn zu leite. Seine politische Praxis schöpft aus zeitgenössischer Kunst und arbeitet mit Objekten und Symbolen, die Mockus als »Sub-Kunst« bezeichnet. Wir arbeiten auch mit dem Zentrum für Politische Schönheit, einem Berliner Think-Tank von Künstlern und Politikwissenschaftlern, der politische Grenzerfahrungen verfolgt und anstößt und unter Politikern nach Künstlern sucht.

 

Wir arbeiten mit Olafur Eliasson, einem der Pioniere der Berliner Kunstszene, der einen Politiker zu einem sechsmonatigen Forschungsstipendium in sein Institut für Raumexperimente berief. Wir luden Mirosław Patecki ein, einen religiösen Künstler, der, getragen vom Glauben, eine der weltgrößten Christus-Statuen gestaltete. Zu Pateckis eigener Überraschung wurde die Skulptur zur visuellen Bestätigung der Vormachtstellung der Katholischen Kirche in Polen, wenn auch unter dem Deckmantel einer Pilgerattraktion. Mit einem Werbeplakat des ägyptischen Telefonriesen Mobinil zeigt die Biennale auch ein kommerzielles Readymade. Das Unternehmen war eins der Netzwerke, die zu Beginn der Revolution im Januar 2011 die Kommunikation im Land außer Kraft setzten. Jetzt vermarktet es die Bilder revolutionärer Massen auf zynische Weise zum eigenen finanziellen Vorteil. Einige Künstler dieser Biennale rufen mit einer Reihe von Kongressen eine „Parallelpolitik” ins Leben: Jonas Staal führt gesetzliche Vertreter von Gruppen zusammen, die aus unterschiedlichen Gründen als Terrororganisationen geführt werden, womit er Konzepte von Ein- und Ausschluss in der demokratischen Weltordnung hinterfragt (New World Summit); Yael Bartana organisiert AND EUROPE WILL BE STUNNED, den Ersten Internationalen Kongress des Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMiP). Sie ruft zur Rückkehr von 3,3 Millionen Juden nach Polen auf und fordert eine Öffnung der Festung Europa sowie das Ende einer Politik, die auf Schuld beruht. Paweł Althamer initiiert einen zwei Monate langen Draftsmen’s Congress (Kongress der Zeichner), auf dem Auseinandersetzung und Kommunikation nicht durch Wörter sondern mittels Zeichnungen und Symbolen geschehen.

 

Engagierte Intelligenz


Der Ausdruck „Engagierte Intelligenz” bezeichnet in Osteuropa eine Gruppe von Menschen, die sich der Produktion und Verbreitung von Wissen bemühen. Im russischen und polnischen Kontext war dieses Leitbild wesentlich für die Gründung einer dem täglichen Aktivismus verschriebenen Klasse von Intellektuellen und Praktikern. Die Engagierte Intelligenz sieht ihre Praxis als Dienst an der Allgemeinheit, ob sie in der Bildung wirkt, im Journalismus, in Kunst oder in der Wissenschaft. Dies zeitigte das gesamte 20. Jahrhundert über eine maßgebliche Wirkung, von den linken Gruppen der Vorkriegszeit bis zum antikommunistischen Widerstand in Zentral- und Osteuropa. Der Ausdruck »Engagierte Intelligenz« markiert den Horizont für den Großteil unserer Zusammenarbeit mit Künstlern und Kuratoren, die sich lokalen Kontexten sowie Themen, die in der toleranten Aura der Berliner Republik ausgeblendet oder unterdrückt sind, widmete. Nada Prlja errichtet eine Peace Wall quer über die Friedrichstraße, die bestehende Teilungen, ökonomische Ungleichheiten, soziale Spannungen und aktuelle Gentrifizierungsprozesse zuspitzt. Bernd Langer, ein Künstler-Aktivist mit Verbindungen zur Antifa und Autor zahlreicher Publikationen zum politischen Widerstand, bietet geführte Touren zur politischen Geschichte Berlins an. Und die israelische Gruppe Public Movement stellt im Anschluss an ein Zitat Angela Merkels über das Scheitern des Multikulturalismus ihre Kampagne Rebranding European Muslims vor.

 

Politiken der Erinnerung


Uns interessierte, wie Tatsachen und historische Ereignisse mit politischen Mitteln erinnert oder verdrängt werden und wie Geschichtsschreibung durch aktuelle Politik und soziale Agenda beeinflusst wird. Die Kuratorin Tímea Junghaus macht mit einem Treffen der Roma-Ältesten auf das Problem des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma aufmerksam und setzt sich für die Fertigstellung des Baus ein, der unabgeschlossen mitten im Herz der Stadt zwischen Brandenburger Tor und Reichstag liegt. Der polnische Künstler Łukasz Surowiec pflanzt 320 Bäume aus der Umgebung von Auschwitz-Birkenau im Stadtgebiet Berlins ein und schafft damit ein lebendiges, atmendes Denkmal. Als einer der Ausstellungsorte der Berlin Biennale dient das Deutschlandhaus, künftiger Sitz des Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV). Dieses Zentrum stellt in unseren Augen ein Auffangbecken unterdrückter, deutscher Erinnerung dar, ein Sprachrohr des offiziellen historischen Narrativs, das aus der kontroversen Frage nach dem Gedenken der während und nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen hervorging. Wir konfrontieren diese staatlich geförderte Geschichtsschreibung mit selbstorganisierten, subjektiven und überaus populären Rekonstruktionen historischer Ereignisse, wie polnische Reenactment-Gruppen sie unternehmen – und zeigen, was viele Deutsche ungern sehen möchten: eine Inszenierung der Schlacht um Berlin von 1945, komplett mit Militäruniformen und Ausrüstung.

 

Agonistisches Kuratieren


Ist Politik eine Möglichkeit für Interessensvertretung und kollektive Entscheidungsfindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, so ging es uns um eine Situation, in der diese verschiedenen Positionen tatsächlich selbst anwesend sind und nicht nur hinterfragt werden. Oft gleichen Kuratoren Polizisten, die, fehlgeleitet von einem Gefühl persönlicher Autorität, die offiziellen Codes der Kunst durchsetzen. Wie in der Berührung des Midas haben sie Teil an der Entscheidung über den symbolischen – und damit ökonomischen – Wert eines Kunstwerks. Wir kamen zu dem Schluss, dass, wer sich als »politischer« Kurator versteht, sich der Verantwortung stellen sollte, in einer Kunstausstellung viele verschiedene politische Haltungen zu präsentieren. Wir verstanden die Rolle des Kurators beziehungsweise der Kuratorin als eine Position, die nicht nur verlangt, »sich zu kümmern«, sondern auch Dissens und Konfrontation einzuladen, Kontrolle über die Bedeutung abzugeben sowie Räume und Mittel zu überlassen. Dieses Denken liegt auch ArtWiki zugrunde, der digitalen Plattform der Berlin Biennale, gemeinsam entwickelt mit dem Netzaktivisten Pit Schultz als Reaktion auf die gewaltige Rückmeldung zum Open Call der Biennale bis Anfang 2011. ArtWiki ist ein Beispiel einer gänzlich inklusiven kuratorischen Praxis, die mit der Idee des „Salon des Refusés” bricht, zugunsten einer „Network-Cloud”.

 

Aufhebung des Publikums


In seinem Essay Notes on the Elimination of the Audience von 1966 suchte Allan Kaprow nach einer Alltagserfahrung durch Kunst, in der Betrachter ihre Rolle vergessen und zu Beteiligten würden. Die »Aufhebung« im Titel bezieht sich auf eine Situation, in der das Publikum seine Position als Betrachter aus dem Blick verliert und sich Zuschauersein zu einer intensiveren Form der Präsenz wendet. Wir richteten die Biennale auf vielfältige Publikumsgruppen aus – Berliner wie internationale. Wir hatten aber auch jene im Kopf, denen vielleicht gar nicht bewusst ist, Kunst-»Betrachter« zu sein. In klandestiner Praxis verbreitet die belarussische Künstlerin Marina Naprushkina in ihrem Heimatland selbstproduzierte Zeitungen, die mögliche Szenarien für die Zeit nach einem Sturz von Präsident Alexander Lukaschenko vorschlagen. Im Wesentlichen richtet sich Naprushkinas Arbeit nicht allein an das Ausstellungspublikum, sondern an Menschen, die ihre Zeitungen, eigenhändig zugestellt, in ihren Minsker Briefkästen finden. Der palästinensische Künstler Khaled Jarrar gestaltete „State of Palestine”-Briefmarken und druckte mithilfe der Deutschen Post 20.000 Exemplare. Sie befinden sich momentan in Umlauf, in Deutschland und weltweit. Die eigentlichen Adressaten dieser Aktionen haben vielleicht überhaupt kein Interesse an der Berlin Biennale, und dennoch unterstützen sie Gesten wie diese, die »Normalität« herstellen und Kunst in der Wirklichkeit aufgehen lassen.

 

Frei und kostenlos für alle


Zum ersten Mal überhaupt ist der Eintritt zur Berlin Biennale kostenlos. Das verdanken wir der Entscheidung einer Institution, die mit ihrer Hilfe zur Schaffung eines Raums für Konfrontation und Austausch beisteuert. Die Inhalte der Ausstellung und des Programms werden sich zudem über die Zeit entfalten, verändern und entwickeln. Die Biennale bringt diverse, ideologisch voneinander abweichende Projekte zusammen, die politische Gegensätze offenlegen und die Tatsache betonen, dass die Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft auch die Kunstwelt durchziehen. Kunst ist schließlich keine Lösung – sie ist Teil des Problems.

Kuratoren der 7. Berlin Biennale

Artur Żmijewski, Joanna Warsza und die Künstlergruppe Voina.Mehr >

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10. Berlin Biennale