DELLBRÜGGE & DE MOLL

Künstler, Berlin

 

Das Überleben eines Weltbildes kann nur gewährleistet werden, wenn die störenden und gefährlichen Elemente, die die anhaltende Koexistenz unterschiedlicher Weltbilder ausschließen, eliminiert, zurückgewiesen oder ignoriert werden. Elemente, die derartige Reaktionen auslösen, bilden die kulturelle Kategorie »Müll«.

Michael Thompson, Müll-Theorie. Die Schaffung und Vernichtung von Werten, 2003

 

Ihr Coach, erzählte unsere Nachbarin, riete ihr, jedes Projekt vom Ende her zu denken, sei es die Karriere, eine Beziehung oder den Lebensplan. Ob die Bonner Klofrau das beherzigte, als sie peu à peu, Cent für Cent 40.000 Euro am Finanzamt vorbei in die Garage ihres Vorstadthäuschens schaffte? Die Steuerfahndungsbeamten, hieß es, wateten durch das Kleingeld, das mit Schaufeln auf eine LKW-Rampe geschippt werden musste. Trugen sie Gummistiefel in dieser Kleingeldschwemme des Steuermorasts? Stanken die Münzen aus dem Toilettengeschäft? Wie viele Kubikliter Kot und Urin waren für dieses Trinkgeld weggespült worden? 40.000 Euro sind ein ansehnlicher Betrag. Dennoch wurde darüber nicht berichtet wie über einen gehobenen Schatz, sondern wie über etwas Anrüchiges, über Abfall.

 

Was Müll ist, ist gesellschaftlich definiert, und damit sind wir Künstler vertraut: Der Übergang von vergänglichen zu bleibenden Werten und umgekehrt ist auch in unserem Geschäft eine Frage der Vereinbarung. Die Verschränkung von Werk und Wert, die Konvertierbarkeit vom Werk in Werte, ist an ihr Herzeigen gebunden. »Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein Herstellen von Ausstellungen dreht«, konstatiert Peter Sloterdijk1. Künstler brauchen nicht nur ständig ein Projekt, schlimmer: Wer nicht ausstellt, gilt als arbeitslos. Die Demütigung durch Nicht-Anerkennung ist die Kehrseite des Begehrens nach Anerkennung. Wird das Recht, wahrgenommen und beantwortet zu werden, verweigert, so Judith Butler, sterben wir einen sozialen Tod. Und das brach liegende Werk wird Müll. Der alchemistische Prozess der Umwandlung eines nichtigen Stoffes in Gold, wie ihn die Klofrau betrieb, ist fragil und reversibel.

 

Von schwindenden Produktionsräume und fehlenden Ausstellungsmöglichkeiten ist viel die Rede. Über das Lagerproblem spricht man nicht, und wenn, dann hinter vorgehaltener Hand. Es ist schambehaftet. Erfolgreiche Künstler haben kein Lagerproblem, sondern eine Galerie und Sammler, die sich auf Wartelisten setzen, um abzunehmen, was man macht. Ein guter Freund hat sein Gesamtwerk in der Garage [sic] seiner Eltern in Westdeutschland untergebracht. Ein anderer unterhält in der Stadt verstreut fünf Lagerräume gleichzeitig. Ein dritter setzt den Quadratmeterpreis der Miete ins Verhältnis zu seinen Objekten, um zu entscheiden, was er behält, ob er etwas Neues produzieren kann und was entsorgt werden muss.

 

Wenn wir die Situation der 8.000 bildenden Künstlerinnen und Künstler in Berlin unter dem Aspekt von haben und brauchen bilanzieren, dann haben wir jede Menge Kubikmeter künstlerischer Werke und brauchen dringend eine Kunst-Halle. Wenn schon nicht zum Ausstellen, dann doch zum Lagern – ein riesiges Depot zu Konditionen, die angesichts der steigenden Gewerbemieten die künstlerische Produktion nicht hemmen, sondern fördern. Eine direkte Künstlerförderung in Form von Stauraum. In welcher Weise der Stauraum auch Schauraum werden kann, führt beispielsweise das Schaulager in Basel vor.

 

Und wo wir schon dabei sind, die Sache vom Ende her zu denken: Angenommen, die Künstlerinnen und Künstler entscheiden sich gegen den Exodus nach Skandinavien (wo Ausstellungshonorare seit den 1970er-Jahren nicht mehr als anrüchig gelten und Garantie-Einkommen die prekäre Lage abfedern) und werden in Berlin alt – wohin mit Tausenden von Kunstgreisen in zwanzig, dreißig Jahren? Genügt ein Altenheim mit Ateliers, Ausstellungssälen und Diskurs-Disko? 8.000 KünstlerInnen – das ist schon ein veritables Dorf. Sollte nicht beizeiten über eine Artist Colony nachgedacht werden, in unmittelbarer Nachbarschaft der Kunst-Halle?

 

Auf dem Tempelhofer Feld ist Platz dafür. In Vergessenheit geratene Vorbilder gibt es genug: etwa die Siedlerbewegung im Wien der 1920er-Jahre, die aus einer wilden Besiedlung freier innerstädtischer Flächen entstand und von Architekten und Intellektuellen wie Adolf Loos, Josef Frank und Margarete Schütte-Lihotzky geprägt war. »Große Architekten für kleine Häuser« war das Motto der von Loos organisierten Bauschule, die Siedler beriet und unterstützte. Die Siedlungen waren »von bürgerlichen Strukturen unabhängig, genossenschaftlich organisiert und verwaltet, urban, frei und auf Selbstverwaltung ausgerichtet«.2 Zeitgleich statteten in Deutschland Kommunen Siedler mit Boden und einem Baubudget aus.3 Heute sehen Architekten wie raumlabor_Berlin und Lacaton & Vassal gerade im Mangel die Herausforderung, kreativ mit Ressourcen umzugehen und adäquate Raumlösungen zu schaffen. Noch sind wir KünstlerInnen rüstig genug, uns unsere eigene Sun-City zu bauen.

 

1 Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, in: Kunstforum International 104, 1989.

 

2 Siehe http://www.demokratiezentrum.org/wissen/wissenslexikon/siedlerbewegung.html (Zugriff am 20. August 2011).

 

3 Siehe Hartmut Häußermann, Walter Siebel, Soziologie des Wohnens, Weinheim 1996.

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

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