Florian Wüst

Künstler und Filmkurator/artist and film-curator, Berlin

 

Innerhalb und außerhalb der Kunst

Das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vermeldete am 26. Januar 2011: »Protest in Berlin: Mehr als 300 Künstler kritisieren Wowereits Leistungsschau.« Zeitungsüberschriften machen oft mit Ungewöhnlichem, mit Unerhörtem auf. In diesem Fall: Kunstschaffende wenden sich gegen ein öffentlich finanziertes Ausstellungsprojekt und dessen Art der kulturpolitischen Instrumentalisierung. Zudem setzten wir1 das geplante Leistungsschau-Projekt in ein Verhältnis zu den realen Produktions- und Präsentationsbedingungen zeitgenössischer Kunst in Berlin und forderten einen Dialog darüber, wie diese »außerhalb medienwirksamer Leuchtturmprojekte nachhaltig gefördert und weiterentwickelt werden können«. Und wir wählten das althergebrachte Mittel eines offenen Briefes, der über das Internet 2.000 weitere UnterstützerInnen fand.2

 

Durch die kontroversen Haltungen zum Brief, zu den vorange­gangenen und nachfolgenden Veranstaltungen und öffentlichen Auftritten von »Haben und Brauchen« sowie zur Leistungsschau (später: based in Berlin) selbst entstand vor allem eines: eine produktive Diskussion über das Selbstverständnis und die gemeinsamen Anliegen von KünstlerInnen und freien Kultur­produzentInnen. Eine solche Debatte auf vergleichbar breiter Ebene hat es im zeitgenössischen Kunstkontext Berlins lange nicht mehr gegeben. Sie verbindet zwangsläufig das KünstlerInnen-Sein mit der Frage, inwieweit und mit welcher Konsequenz man sich als gesellschaftliches Subjekt begreift. Stößt selbst eine sich als politisch verstehende künstlerische Praxis an ihre Grenzen, wenn es um die Konfrontation mit der Wirklichkeit geht, die die eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse determiniert? Unabhängigkeit und Freiheit der Kunst sind keine »natürlichen« Gegebenheiten, sie müssen immer wieder behauptet, erstritten, her­gestellt werden – innerhalb und außerhalb der Kunst.

 

Zeitgenössische Kunst trägt in sich etwas, das sich Vereinheitlichungen und Absolutsetzungen entzieht, sie konterkariert die Behauptung eines harmonisch Ganzen als gesellschaftliche Idee. Wolfgang Welsch spricht von der Kunst als einer Elementarschule der Pluralität. Ob man dieser hybriden, heterogenen, brüchigen Verfasstheit der Kunst eine soziale Modellfunktion zumessen will oder nicht, die Diskussion um die Rolle von Kunst sollte sich nicht mit der Form eines Gesprächs unter Gleichen begnügen – zwar ästhetisch erhaben, aber vermutlich wirkungslos. Wenn KünstlerInnen sich selbst und ihre Möglichkeiten der Entwicklung und Vermittlung einer Bewusstseinsbildung der anderen Art ernst nehmen, dann erscheint es nur logisch, die künstlerische Produktion mit weiteren Handlungsoptionen zu kombinieren und zu verflechten: von der Einmischung in politische Prozesse bis zur Schaffung selbstorganisierter Strukturen.

 

1 Wir, das sind Ellen Blumenstein und ich als InitiatorInnen von »Haben und Brauchen« sowie 226 weitere ErstunterzeichnerInnen des gleichnamigen offenen Briefs an Klaus Wowereit in Reaktion auf die geplante »Leistungsschau junger Kunst aus Berlin«. Erstveröffentlichung des Briefs in zitty 3/2011. Unter dem Titel »Haben und Brauchen« versammelt sich inzwischen ein erweiterter, informeller Kreis von Berliner KunstakteurInnen, um zu kultur- und stadtpolitischen Themen in Aktion zu treten.

 

2 http://www.habenundbrauchen.kuenstler-petition.de (Zugriff am 28. August 2011).

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

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