JALAL TOUFIC

Denker und tödlich sterblich

Ein Künstler schafft ein Universum, das nicht »zwei Tage« später wieder zerfällt, und / oder er zerstäubt ein solches Universum (es ist unpassend, von »der Kunstwelt« zu sprechen: Es gibt die Kunstszene, die aber keine Welt ist, und ansonsten nicht nur eine Kunstwelt, sondern viele Kunstwelten oder Universen, denn etliche Gemälde, Filme und Videos haben ein Universum geschaffen, das »nicht zwei Tage später wieder zerfällt« [Philip K. Dick]); und / oder er erweckt wieder zum Leben, was nach einem überragenden Desaster verborgen wurde (oft auch, nachdem er ein solches Verbergen erst offenbart hat); und / oder er begleitet denjenigen, der sich in einem Zustand der Entpersonalisierung befindet (etwa Nietzsche, der die Kunst in vielen, wenn nicht in allen seinen Büchern begleitete und der als geselliger Professor begann, bevor er »2000 Meter jenseits von Mensch und Zeit« landete, als er im August 1881, somit ein einsamer Mann, über die ewige Wiederkehr des Gleichen nachgedacht hatte und anschließend eine Entpersonalisierung durchmachte [aus seinem Brief an Jakob Burckhardt vom 5. Januar 1889: »Ich bin Prado, ich bin auch der Vater Prado, ich wage zu sagen, daß ich auch Lesseps bin … Ich bin auch Chambige …, … daß im Grund jeder Name in der Geschichte ich bin.«]), ein Zustand, mit dem jeder von uns extim vertraut ist, insofern wir, Sterbliche, tot sind, während wir noch leben (»Die meisten ›Autoren‹ und ›Filmemacher‹ wenden sich an unser geselliges Selbst; nur wenige wenden sich an das einsame Selbst; und dann gibt es noch ein paar andere, sie sind selten, die sich an denjenigen wenden, der sich aus welchen Umständen heraus auch immer in einem Zustand der Entpersönlichung befindet – sie begleiten jemanden auch dann noch, wenn er sich selbst verlassen hat. Da solche Fälle der Entpersonalisierung selten sind, und da man sie sich zumeist nur ungern in Erinnerung rufen lässt, kommen letztere Autoren und Filmemacher, Bücher und Filme beim Publikum nicht gut an« [Jalal Toufic, Forthcoming, Atelos 2000]) usw. Wenn wir die zuvor erwähnten Aufgaben der Künstler in Betracht ziehen, also außergewöhnliche Aufgaben vom Standpunkt der Kultur aus gesehen, dann ist es beinahe ein Wunder, dass es angesichts der Schwierigkeit, wenn nicht zumindest scheinbaren Unmöglichkeit dieser Anforderungen überhaupt Künstler gibt. Godard: »Kultur ist die Regel, Kunst die Ausnahme«; »die Kunstszene«, deren Programm zurzeit weitgehend von Kuratoren, Museumsdirektoren, Emiren und Bürgermeistern, Sammlern, Galeristen und Auktionshäusern bestimmt wird und zu der die immer neuen Kunst-, Visual-Studies- und Visual-Cultures-Fakultäten und Curatorial-Studies-Studiengänge und -Institute des Universitätsbetriebs ebenso gehören wie die Tausende und Abertausende mehr oder weniger berühmten, sogenannten Künstler, ist bestenfalls eine Subkultur und als solche nur in Ausnahmefällen raffiniert genug für die ausnehmend schwierigen Aufgaben der Künstler.

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

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