Juan A. Gaitán im Katalog der 8. Berlin Biennale
Im gesamten Prozess der Ausarbeitung dieser 8. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst war es mir wichtig, dass die kuratorische Annäherung an Berlin eine tastende, vorsichtige bleibt, dass ich hinhöre und hinsehe auf das, was sich in der Stadt abspielt, bevor ich meine Vermutungen bestätigt (oder widerlegt) finde. Während früherer Besuche und in der Zeit meines Aufenthaltes als Kurator der Berlin Biennale konnte ich beobachten, wie sich die Stadt in eine ziemlich interessante Richtung entwickelte. Es war spannend für mich zu sehen, was aus ihr geworden ist, und ich begann mich zu fragen, inwieweit ihre Entwicklung eine umfassendere Tendenz in aller Welt widerspiegelt, Geschichte zu bemühen, um die Hegemonie bestimmter vorherrschender Erzählungen zu verfestigen.
Dafür musste ich mich nicht allzu weit aus meinem „Zuhause“ wagen – das heißt aus meinem derzeitigen Zuhause im Gebäudekomplex in Berlin-Mitte, der die KW Institute for Contemporary Art beherbergt. Ein Beispiel: Auf der Museumsinsel entsteht zurzeit das Humboldt-Forum, an dem einmal Nachbildungen von drei der ursprünglichen Schlossfassaden und der Schlosskuppel zu sehen sein werden. Nach einer offiziellen Verlautbarung hat eine „internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin“ dieses Vorhaben empfohlen. Sie war der Auffassung, dass mit der Wiederherstellung der Fassaden „alle umliegenden historischen Gebäude ihre maßstäblichen und inhaltlichen Bezugspunkte wieder zurück“ erhalten. Das Humboldt- Forum wird am östlichen Ausläufer des prächtigen, baumbestandenen Boulevards Unter den Linden gebaut, einem Produkt der preußischen Stadtplanung aus neoklassizistischer Zeit. Entsprechend liegt dem Drang zur Rekonstruktion unübersehbar der Wunsch zugrunde, nicht nur einzelne Gebäude, sondern die Stadt insgesamt in ein Denkmal, ein Artefakt zu verwandeln. Demgegenüber steht eine zeitgenössische Architektur, die sich seit dem Fall der Berliner Mauer in Gegenden wie dem Potsdamer Platz konzentriert. Ihre wichtigste Aufgabe bestand anscheinend darin, die Stadt in die Post-Beschleunigung des 21. Jahrhunderts zu katapultieren und ebenso eilig die Traumata des 20. zu begraben.
Doch Berlin ist nur ein Ausgangspunkt, ein Beispiel für die allgemeine Tendenz, die Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken und sich damit vom vergangenen Jahrhundert loszusagen. Diese Distanzierung ist vielleicht in erster Linie eine ästhetische und entspringt dem Wunsch nach Beseitigung der Architektur des 20. Jahrhunderts, die dann entweder durch getarnte Konzernbauten oder Rekonstruktionen historischer beziehungsweise historisch aussehender Architektur ersetzt wird. Auch in dieser ästhetischen Leugnung äußert sich jedoch die gegenwärtige globale Krise des Nationalstaats, der sich in seinem neoliberalen Gewand von einigen der bedeutendsten, wenngleich unvollendeten Projekte des 20. Jahrhunderts abgewendet hat: vom Versuch, Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte offener und aufnahmefähiger zu verfassen; von einem Städtebau mit gesellschaftlicher Verantwortung; von einem Bauen für und durch das Volk, um eine prägnante These des bedeutenden Architekten Yona Friedman wiederaufzunehmen.
Natürlich kann eine Biennale solchen Anliegen nur in Teilen gerecht werden. Doch ich bin überzeugt, dass sie hier als Teil der fortdauernden Auseinandersetzung mit der Stadt wahrgenommen werden müssen. Daher waren sie auch wesentlich für die Formulierung der Kartografie dieser 8. Berlin Biennale. Sie kommen programmatisch in der Auswahl der Veranstaltungsorte zum Ausdruck. Zwei davon – die Museen Dahlem – Staatliche Museen zu Berlin und das Haus am Waldsee in unmittelbarer Zehlendorfer Nachbarschaft – befinden sich im Westen. Der dritte Schauplatz sind naturgemäß die KW, traditionell der Hauptort der Berlin Biennale, der diesmal mit den beiden anderen um den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit konkurrieren muss. Die Ausstellung als solche wurde über diese Kartografie gelegt und unsere Hoffnung ist, dass jeder dieser Orte einen jeweils eigenen Bezug zwischen der zeitgenössischen Kunst und ihrer Umgebung entfaltet. Im Haus am Waldsee sollen die ausgestellten Werke auf die ursprüngliche Funktion des Hauses als Privatvilla hinweisen. Sie laden die BesucherInnen ein, sich auf das nach wie vor wirksame Verhältnis dieses Ortes zu seiner Umgebung einzulassen, ihn als Allegorie der Unzeitgemäßheit romantischer Landschaft wahrzunehmen. In Dahlem ermutigt die fragmentarische Verteilung der Installationen neben den bestehenden Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst die Besucherinnen und Besucher immer wieder zur Entscheidung, im Raum zeitgenössischer Kunstpräsentation zu bleiben oder kurze Ausflüge in die historischen Bestände der Museen zu unternehmen. In den KW haben wir uns demgegenüber für ein mehr nach Innen gerichtetes, absorbierendes Erleben der Kunst entschieden und die Neigung von Räumen zeitgenössischer Kunst bekräftigt, sich von der unmittelbaren Umgebung abzusondern.
Es gibt daneben noch einige Parallelaussagen, zusätzliche Ausstellungsorte, die wir „surplus venues“ genannt haben: das Crash Pad, als ausgewiesener diskursiver Raum für Diskussion und Debatte, das Buch Excursus, das visuelle Vorschläge der KünstlerInnen dieser Berlin Biennale enthält, und die Plakatserie 9 Plus 1. Das Crash Pad ist eine eigenständige Installation und befindet sich im Vorderhaus der KW. Die anderen beiden sind sehr verschiedene Erzeugnisse der Druckerpresse (dieser beinahe schon veralteten Maschine). Während Excursus, ein „Bilderbuch“, dazu gedacht ist, dass man sich auf einer privaten, intimen Ebene darauf einlässt, soll das andere Format – das Plakat – öffentlich in Erscheinung treten und eine Gemeinschaft stiftende Wirkung entfalten. Im Zusammenspiel mit den schon genannten Ausstellungsorten stehen diese zusätzlichen für eine andere Art und Weise, den Dialog über den Vorrang der bildlichen Darstellung vor anderen Formen der Sinneserfahrung in Gang zu bringen.
Eine der spannendsten selbst gestellten Aufgaben dieser 8. Berlin Biennale und ihres Teams hatte mit der Entscheidung zu tun, eine umfangreiche und internationale Gruppe von KünstlerInnen zur Teilnahme an der Ausstellung einzuladen. Nicht zuletzt, weil wir bei diesen KünstlerInnen auch neue Werke in Auftrag gegeben haben, hat dieses Vorgehen sicher erheblichen Druck auf die Strukturen der Berlin Biennale ausgeübt. Es war aber ein entscheidender Bestandteil unseres Prozesses. Indem die Werke auf die Gegebenheiten reagierten, haben sie auch zur Entwicklung der Ausstellung und zur Formulierung ihrer Themen beigetragen. Beispielsweise entstanden mehrere Werke aus der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Museen Dahlem und mit der kolonialen und imperialen Logik, die sie als Sammlung und Zurschaustellung von Artefakten aus anderen Kulturen verkörpern. Weitere Arbeiten in der Ausstellung haben mit dem Regiment der stillen Betrachtung zu tun, das sich in den Darbietungen zeitgenössischer Museen behauptet, indem es den Anschein der Dinge betont und eine westliche Art und Weise ästhetischer Wertschätzung privilegiert. Dieser Argumentationslinie folgend, setzen sich andere Werke direkt mit den Mechanismen des Bildes, seiner Erzeugung und seinen unzähligen Funktionen auseinander. Was die Wahl der Medien angeht, sind in der Ausstellung die Zeichnung und andere von der Zeichnung abgeleitete Arbeitsweisen auffällig präsent, was nach meiner Ansicht den propositionalen Charakter des Kunstwerks betont und demgemäß die BetrachterInnen dazu auffordert, sich mit den Werken als Behauptungen von bedingtem Geltungsanspruch zu befassen – bedingt insofern, als zeitgenössische Kunst zwei simultane, doch aporetische Aufgaben erfüllt, wenn sie einerseits die Wirklichkeit erforscht und andererseits kritisch auf Distanz zu den Mechanismen ihrer Darstellung geht. Auch Klang und Komposition werden in der Ausstellung stark betont. Einmal abgesehen davon, wie einige der gezeigten Werke klangliche Mittel nutzen, kann man das vielleicht auch als eine Geste verstehen, die die Dominanz des Bildes in der zeitgenössischen Kultur ein wenig mindert.
Dieser Kurzführer hat zwei Hauptteile. Der erste enthält Beiträge von den Mitgliedern des Artistic Team – Tarek Atoui, Natasha Ginwala, Catalina Lozano, Mariana Muguía, Olaf Nicolai und Danh Vo. Auf Vorgaben, dass diese Stellungnahmen ein allgemeines Thema behandeln oder eine methodologische oder konzeptionelle Einheit bilden sollten, haben wir verzichtet. Die Beiträge sind eher Inter ventionen, die einen Eindruck von den persönlichen Neigungen der Autorinnen und Autoren vermitteln und zeigen sollen, von welchen Positionen ausgehend wir bei diesem gemeinsamen Vorhaben unsere Interessen bestimmt haben. Für die LeserInnen wird dennoch deutlich werden, dass Architektur und Bild („Architektur des Bildes“ und „Image-Architektur“ einerseits, das Bild als Funktion und Begleiterscheinung der Globalisierung andererseits) wesentliche Themen der Debatte gewesen sind. Der zweite Teil ist nach Ausstellungsorten gegliedert. Man findet hier knappe Informationen zu jedem Ort und wird durch die rund 50 Projekte (darunter viele eigens entstandene Auftragsarbeiten) geleitet. Ein Beitrag zu jeder/m ausstellenden KünstlerIn umfasst neben Bildmaterial einen kurzen Text zu ihrer oder seiner Arbeitsweise allgemein und zu den Werken für die 8. Berlin Biennale im Besonderen.
Der Text „Szondi/Eden“ des Künstlers und Artistic-Team-Mitglieds Olaf Nicolai gibt eine direkte Antwort auf die Frage, wie sich unser Interesse an Stadt und Bild in der Planung der 8. Berlin Biennale niedergeschlagen hat. Nicolais fiktive Kurzgeschichte spielt in einem Gebäude, das wir anfangs als möglichen Ausstellungsort in Betracht gezogen hatten: ein leer stehendes Einkaufszentrum im östlichen Bezirk Lichtenberg, das in bestem Zustand auf seinen Abriss wartet. Gemäß dieser früheren Kartografie der 8. Berlin Biennale sollte die Stadt in drei Sektoren aufgeteilt werden, von denen zwei – der Osten und der Westen – in der Vergangenheit steckengeblieben waren und in einen Gegensatz zur Mitte traten. Denn hier vermuteten wir das Epizentrum eines (vom Architekten Philipp Oswalt schon 1998 beschrieben) Vorhabens, das 19. mit dem 21. Jahrhundert zu verknüpfen und dabei das 20. Jahrhundert zu verleugnen. Nicolais Erzählung richtet den Blick auf die ornamentalen Details des Einkaufszentrums und auf die von ihnen beschworenen Gespenster (vor allem den marxistischen Philosophen und Literaturtheoretiker Georg Lukács), als stünden sie in Reih und Glied an einer inzwischen verschwommenen Grenze zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Letzten Endes war es vielleicht nicht nötig, die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung nach Lichtenberg zu führen und an eine Sicht auf Ostberlin zu erinnern, die heute fast gänzlich aus dem Blick gerückt ist, sich aber dennoch in der Vorstellung festgesetzt hat.
Die Texte der Soziologin Mariana Munguía und der Kuratorin Catalina Lozano stecken die Fundamente des Museums als eines Mittels zur Konstruktion der Nation ab. Munguía erzählt in „Begrabene Bilder“, ihrem Essay über die aztekische Steinskulptur Coatlicue und deren wiederholte Vergrabungen und Ausgrabungen, und wie erst ein neu gegründetes mexikanisches Nationalmuseum den erforderlichen Rahmen dafür bot, dass die eindringliche Macht dieser Skulptur (entgegen den Lehren der Katholischen Kirche) ihre Wirkung ausüben und Massen von indigenen MexikanerInnen anziehen durfte, während man sich dieser Macht zuvor nur erwehren konnte, indem man die Skulptur unter die Erde brachte. Das postrevolutionäre, „bürgerliche“ Museum war mehr als ein Speicher für Dinge, die man den Händen der Kirche und des Königs entrissen hatte. Das Museum ist keine Hervorbringung des modernen Nationalstaats. Es steht aber insofern im Zentrum des Nationalstaats, als es den Ort bezeichnet, an dem Nation und Kultur als eine singuläre Einheit wahrgenommen werden können. Von einem zeitgenössischen Standpunkt aus gesehen, in einer von allen nur erdenklichen nationalen und ideologischen Museen saturierten Welt, spricht Lozano in „Ein Begräbnis“ davon, wie nahezu unmöglich es ist, ein machtvolles Bild zu erzeugen, mit dem sich vielleicht eine oppositionelle Zusammenkunft generieren lässt. In ihrer Betrachtung einer ganz anderen Ruine – eines Friedhofs außerhalb von Mexiko-Stadt – kommt sie dennoch zu dem Schluss, dass es für die Kunst heute keine bessere Funktion geben kann, als eben dies perspektivisch anzustreben.
In „Die Dahlem Sessions“ berichtet der Künstler Tarek Atoui von seiner Entdeckung eines Schatzes historischer Instrumente im Depot des Ethnologischen Museums in Dahlem. Mit der Absicht, aus diesen Aufnahmen eine Art Klangarchiv entstehen zu lassen, bestand sein Projekt für die 8. Berlin Biennale darin, virtuose MusikerInnen zur Aufführung von Solostücken auf Instrumenten einzuladen, über die sie so gut wie nichts wussten. Atoui sieht eine Entsprechung zwischen diesem wachsenden Archiv und seiner eigenen Arbeit als Musiker und Komponist. Er beschreibt die von ihm selbst entwickelten, modernen elektronischen Instrumente, bei denen die Interpretin oder der Interpret immer wieder neu lernen muss, sie zu spielen. In gewissem Sinn eignen sich sowohl seine Arbeiten als auch die Instrumente in der Museumssammlung dazu, die Entwicklung jeglichen Gefühls meisterhafter Beherrschung zu verunmöglichen. Bei diesem Projekt entsteht aus der Begegnung zwischen MusikerInnen und den ihnen „fremden“ Gegenständen ein Archiv der Klänge, das gewissermaßen eine verfehlte Begegnung bezeugt.
„Doppelleben“, der Beitrag der Kuratorin und Autorin Natasha Ginwala, hat die Form eines Essays mit einem „Epilog“, der das im Zuge ihrer Forschung gesammelte und in der Ausstellung gezeigte Material erläutert. Sie beginnt mit einem frühen Motiv, das uns faszi - niert hat, nämlich mit einigen Figuren der späten Aufklärung wie dem Berliner Alexander von Humboldt, die es sich zur Aufgabe machten, die Welt zu bereisen, Information über die Vielfalt ihrer natürlichen Landschaften, ihrer Flora und Fauna, ihrer Sprachen und Kulturen einzusammeln und diese Kenntnisse zurück nach Europa zu bringen. Ginwalas Recherchen widmen sich einer spezifischen Kontinuität zwischen den dialektischen Gestalten des Reisenden und des Autors. Indem sie einige Bilder aus dieser Zeit analysiert, schlägt sie zugleich vor, die Spuren solcher realer oder imaginärer Reisen „stereoskopisch“ zu deuten.
Der Künstler Danh Vo schließlich trägt einen visuellen Essay ohne Titel bei. Er zeigt Schnappschüsse von Kindern in T-Shirts mit der Reproduktion eines Gemäldes von 1839, dessen unbekannter vietnamesischer Maler die Folterung des französischen, in Tonkin in Vietnam, zu Tode gequälten Missionars Jean-Charles Cornay (1809–1837) festgehalten hat: eine Botschaft in Bildern nach dem Prinzip der mise en abyme.
Das Museum und das Bild – nicht nur das Museum und die Kunst – gehören in ihrer wechselseitigen Entwicklung als Instrumente der Ideologie und, wenigstens im spätkapitalistischen Jahrhundert, auch als Zeichen des privaten oder staatlichen Reichtums gemeinsam zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Aura des Museums als Ort, an dem das kulturelle und symbolische Kapital einer Gesellschaft aufbewahrt ist oder künftig bewahrt werden kann, wird in so gut wie jedem Bild beschworen; im Gegensatz dazu schließt das Museum gerne alles, was es besitzt, in einem Raum der stillen Betrachtung ein. Die Werke dieser Ausstellung sollen die Grenzen der Kunst als ein Feld der Selbstreflexion erweitern. Im Rahmen einer solchen Auseinandersetzung widerstehen Kunstwerke ihrer Vereinnahmung und ihrer Nacherzählung in den Begriffen der Kunstgeschichte. Sie sind hier vor allem Thesen gegen die heutigen gesellschaftlichen und politischen Funktionen des Bildes als der dominanten Form der Repräsentation. Indem diese 8. Berlin Biennale ihren Schwerpunkt auf den künstlerischen Prozess setzt, gibt sie dem dringenden Bedürfnis zeit - genössischer künstlerischer Praktiken nach gleichzeitiger, vielleicht aporetischer Erkundung der Wirklichkeit und der Mechanismen ihrer Repräsentation den Vorrang. Politische Botmäßigkeit ist nicht Sinn und Zweck der Kunst; ihr Streben geht dahin, ein Gegenbild zu schaffen, das Wahrheit und Macht auseinanderhalten kann.
On Twitter
Keine Kommentare / Kommentar schreiben