Marius Babias

Direktor, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin

 

Die Spur der Revolte

Von Politik bereinigt, wurde im Berlin der 1990er-Jahre ein neuer Produktionsstoff entdeckt: die eigene Subjektivität, die es zu vernutzen gilt. Das »Versprechen Berlin«, von dem sich so viele KünstlerInnen, KulturproduzentInnen und andere Ich-DarstellerInnen anlocken ließen, besteht vor allem darin, ein dem kulturellen Markt zur Kooptation kritischer Produk­tionsmodelle geeignetes Wirklichkeitsmodell bereitgestellt zu haben. Der wohl am häufigsten anzutreffende Berlin-Phänotyp ist das aus sich selbst schöpfen­de Künstlersubjekt, das einen ästhetischen Früchtekorb für den bürgerlichen Distinktionsgewinn bereitstellt. Diese Entwicklung spiegelt sich in der massiven Rückkehr von Malerei, Fotografie und Zeichnung wider. Als Reaktion darauf entstanden Ende der 1990er-Jahre dissidentisch aufgeladene Theorie-Zirkel, die allerdings mit der Ausarbeitung einer übergreifenden gesellschaftlichen Perspektive, unter deren theoretischem Dach sich die Subszenen stellen könnten, überfordert sind.

 

Berlin – das ist ein Produktionsregime des Imaginären mit ganz realen Folgeerscheinungen. Die vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Wiedervereinigung generierten Identitätscontainer »Berliner Republik«, »Neue Mitte« und »Generation Berlin« wurden zuallererst von den KünstlerInnen- und Boheme-Milieus mit Leben gefüllt. Seit Ost-Berlin dazu kam, verlaufen die Konflikt- und Definitionslinien Gesamt-Berlins nicht mehr entlang der Mauer, sondern entlang von Begriffen und symbolischen Kampfplätzen. Ob Planwerk Innenstadt, Stadtschloss, Holocaust-Mahnmal oder Vertriebenenzentrum – die sozialpolitischen Beschädigungen dieser Debatten haben materiell und symbolisch neue Rangordnungen des Urbanen mit Gewinnern und Verlierern hervorgebracht. Zu dieser neuen Berlin-Kartographie gehören Bundeswehrgelöbnisse und die Club- und Kunstszene in Mitte wie auch die bürgerlichen Wohnghettos in Zehlendorf, die Ökospießer-Hoods in Friedenau und die soziale Verelendung in Neukölln und Kreuzberg. Berlin – das ist das Patchwork der Mehrheiten nach der Wiedervereinigung.

 

Die Rekombination sozialer und politischer Rahmenbedingungen – deutsch-deutsche Wiedervereinigung, Bauboom, ökonomisches Versprechen der Hauptstadt Berlin – hat eine dem bohemistischen Künstlerbild entlehnte Lebensform hervorgebracht, die eben diese Rahmenbedingungen »künstlerisch« substantiiert. Das Alltagsleben des »Künstlers« ist zum Inbegriff der Generation Berlin geworden: jung, erfolgreich, spaß- und geldorientiert. Davon profitieren insbesondere die Bauherren, Investoren und Imageproduzenten, die verstärkt Kunst fördern und also die Lebensform »Künstler« mitfinanzieren helfen. Die Gründung von Galerien, Clubs und Locations durch West-AbiturientInnen in Berlin-Mitte nach Mauerfall signalisierte das Ende der Off-Kultur in dem bis dahin geltenden Sinne, dass kulturelle Aktivitäten, seien sie noch so dilettantisch, als irgendwie »oppositionell« verstanden werden konnten. Doch der »Künstler« der Berliner Republik gab selbst diesen Minimalkonsens auf. Seine Orientierung gilt weder der Kunst noch der Politik, sie ist ausgerichtet auf eine Décollage des Kapitalistischen Realismus, der ihn nach seinem Ebenbild geformt hat: wettbewerbsfähig und risikoreich, selbstverliebt und publikumsorientiert zugleich.

 

Demgegenüber scheint sich aber ein Aktionsfeld für eine kritische Kunstpraxis zu öffnen, die das Politische nicht strategisch oder ornamental in Gebrauch nimmt. Im Feld der Kunst und Kultur könnte, sobald sie sich mit politischen und sozialen Widerstands- und Antiglobalisierungsbewegungen verbinden, eine Perspektive erwachsen, die künstlerische Aktivitäten als Chance auf einen Kritikentwurf sieht. Der Vermischungsprozess von Kultur und politischem Widerstand generiert tendenziell drei Handlungsformate, die sich gegenseitig durchdringen und verstärken: 1. Aktivismus als Kunstform; 2. Kooperationen zwischen KünstlerInnen und AktivistInnen; 3. Kunst als aktivistische Manifestation. Es gilt, künstlerische Praxis als ein gesellschaftliches Handlungsformat – und eben nicht als abgelebte bürgerliche oder als Radical-Chic-kompatible Form des Distinktionsgewinns zu begreifen. Das künstlerische »Werk« ist so gesehen der Ausgangspunkt einer umfassenden Betrachtung seiner Entstehungs- und Rahmenbedingungen sowie seiner Wirkungsmacht bei der Herstellung, Verfertigung und Verfestigung von Bildern, Images, Einstellungen und Dispositiven. Allerdings ist diese Aufgabe kaum mit traditionellen Medien wie Malerei, Zeichnung oder Fotografie zu leisten.

Kunst und Kultur als Gegenentwurfsresiduen sind keineswegs nur Resonanzfelder gesellschaftlicher Entwicklungen, vielmehr konstruieren sie aktiv eine Politik der Repräsentation mit, an der sie in doppelter Weise partizipieren – als Produzenten und Repräsentanten zugleich.

 

© Marius Babias, Berlin. Die Spur der Revolte, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2006

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

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