Yvonne P. Doderer

Büro für transdisziplinäre Forschung und Kulturproduktion, Stuttgart

 

Kunst & Kultur Uncut

Angesichts der gegenwärtigen Diskussionen um Kunst- und Kulturpolitik erinnere ich an die wohl erste Demonstration dieser Art in Deutschland, die »Art Parade«, die mit fast 2.000 Teilnehmer_Innen am 19. November 2009 durch die Stuttgarter Innenstadt zog und an der über 90 Stuttgarter Kunst- und Kultureinrichtungen beteiligt waren. Anlass dieser Demonstration waren die geplanten Kürzungen im Kulturetat der Landeshauptstadt Stuttgart, die insbesondere die vielfältige Szene an größeren und kleineren Einrichtungen wie den Württembergischen Kunstverein, die Oberwelt e. V. oder das Künstlerhaus Stuttgart betrafen, deren Etats zudem seit Jahren nicht mehr erhöht worden waren. Die Stuttgarter Kürzungen sind nur ein Beispiel für die sich zusehends verschärfende Situation kommunaler Kunst- und Kulturförderung in vielen bundesdeutschen Kommunen. Auch wenn sich die Situation im Einzelnen durchaus differenziert darstellt,1 bleibt festzuhalten, dass Stadtregierungen meinen, am Kunst- und Kulturetat am ehesten den Rotstift ansetzen zu können. Dies betrifft auch indirekte Kürzungen in Form von Förderungen reiner »Leuchtturmprojekte«, die verhindern, dass bestehende Strukturen nachhaltig gefördert werden. Auch auf nationaler Ebene steht der Kunst- und Kulturetat in Deutschland zur Disposition.2 Noch dramatischer erweist sich die Situation inzwischen in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Italien, Ungarn oder den Niederlanden, denn hier mutiert Kunst und Kultur unter dem Vorzeichen eines rechtskonservativ-nationalistischen Populismus zu einem »linken Hobby, das niemand braucht« (Geert Wilders).3 So vermeintlich legitimiert, werden drastische Kürzungen vorgenommen, die für viele Einrichtungen wie die Jan-van-Eyck-Akademie in Maastricht4 das endgültige Aus bedeuten. Auch wenn in Italien die neuesten Kürzungen inzwischen zurückgenommen wurden, wird, gesamteuropäisch betrachtet, Kunst und Kultur immer wieder zum Spielball politischer Interessen im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Ökonomisierung, die vermeintliche, aus einer sich immer weiter verschärfenden Verteilungsungerechtigkeit resultierende Finanzkrisen dazu benutzt, um eine neoliberal begründete Kürzungs- und Privatisierungspolitik weiter voranzutreiben. Kunst und Kulturschaffende haben angesichts dieser Entwicklungen nur eine Chance, nämlich sich übergreifend zu verständigen und solidarisch zu organisieren, um dann offensiv an die Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft heranzutreten. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich Künstler_Innen und Kulturschaffende noch deutlicher als bislang der gesellschaftspolitischen Rolle von Kunst und Kultur bewusst werden und aktiv werden. Bereits Herbert Marcuse hat darauf hingewiesen, dass Kunst und Kulturproduktion wählen kann: zwischen »schönem Schein« oder »zu einem politischen Faktor«5 werden. Hier Position zu beziehen, ist nicht nur angesichts der eigenen Betroffenheit, sondern auch angesichts der gegenwärtigen globalen und lokalen Entwicklungen umso dringender geboten – nicht zuletzt auch deshalb, weil das künstlerische Feld nicht nur ein Möglichkeitsraum, sondern einer der noch wenigen verbliebenen Räume produktiver Kritik

 

1 Siehe Bernd Wagner, »Nothaushalte und wachsende Kulturetats: Umfrage zur Situation der kommunalen Kulturfinanzierung,« in: Kulturpolitische Mitteilungen, No. 131, IV / 2010, pp. 29–33.

 

2 Siehe http://www.tagesspiegel.de/kultur/widerstand-gegen-westerwelles-kulturpolitik /1973608.html

(accessed July 28, 2011).

 

3 Simon van den Berg, »Mit dem Rücken zum Publikum?«, http://www.nachtkritik.de (accessed July 28, 2011).

 

4 See http://www.an-online.de/artikel/1730861 (accessed July 28, 2011).

 

5 Herbert Marcuse, »Art in the One-Dimensional Society,« in: Douglas Kellner (ed.), Herbert Marcuse: Art and Liberation (New York, 2007), pp. 122 ff.

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

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