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Parlament des „New World Summit”; Entwurf von Jonas Staal

KUNST IN VERTEIDIGUNG DER DEMOKRATIE

Von Jonas Staal

1.

Die Kämpfe der Kunst im 20. Jahrhundert waren vom Streben nach Freiheit geprägt. Um nicht länger einer religiösen, politischen oder ökonomischen Agenda dienen zu müssen, bekämpfte die Kunst die Kirche, den Staat und das wohlhabende Bürgertum. In den Niederlanden nahm die Politik diesen Kampf ernst. In der Nachkriegszeit wurde hier die Kunst von der Politik auf finanziell abgesicherte Freiheit verpflichtet. Nach der Rolle, die sie in den nationalsozialistischen oder stalinistischen Systemen gespielt hatte, war jedes direkte ideologische Bekenntnis verdächtig geworden. Daraus zogen sowohl die Politik wie die Kunstwelt den Schluss, dass gar kein Engagement besser sei als Engagement für die falsche Partei. Eine generische Politik – eine Politik, die aus Angst, sich die Hände schmutzig zu machen, Ideologie gegen Management getauscht hat – förderte eine entsprechend generische Kunst: Kunst, die vor größeren politischen Projekten zurückschreckt, ist nicht mehr als Unterhaltung für den Konsumenten-Wähler und dessen Manager.

 

Im Verzicht auf die Äußerung ihrer Ideale sind Kunst wie Politik Demagogen und Populisten zum Opfer gefallen, die die rückgratlose Landschaft der kapitalistischen Demokratie und deren Kunst als offenes Ideenfeld gebrauchen. Ja, Ideologie ist zurück, allerdings in den Händen von Rassisten wie Geert Wilders, dem Vorsitzenden der rechtsextremen holländischen Freedom Party. Auch Kunst ist wieder politisch: aber nur weil diese Agitatoren sie als Spielball der Elite denunzieren. Wir brauchen eine Politik und eine Kunst, die in Eigeninitiative voraus gehen und den Mut haben sich einem wirklich ideologischen Projekt zu verschreiben. Deren Umrisse haben sich in jüngster Zeit abgezeichnet. Von Internetaktivisten wie WikiLeaks und Anonymous bis zur weltweiten Occupy Bewegung: Die Demokratie wird verteidigt, als offener, nicht-exklusiver Raum. Eine Bewegung wie Occupy verkörpert keine vorgefertigte Ideologie, sondern ein Instrument, mit dem Politik zurück auf die Straße geführt wird und Demokratie aus dem Bereich von Repräsentation übergeht in Aktion. Fundamentale Demokratie ist daher ein ideologisches Projekt, das ein politisches System, statt es erst selbst auszubilden, für die ganze Gesellschaft öffnet.

 

Welche Rolle kann Kunst in dieser politischen Bewegung spielen? Laut dem polnischen Künstler Artur Żmijewski:

„Indem sie sich erneut in Abhängigkeit begibt, kann die Kunst vielleicht lernen wie sie sozial nützlich sein kann, sogar auf operativer Ebene.“

Kunst kann nur dann wieder soziale Bedeutung erreichen, wenn sie es wagt die „Freiheit“, die sie im 20. Jahrhundert erlangt hat, in den Dienst eines ideologischen Projekts zu stellen. Die Bewegung im Dienste fundamentaler Demokratie sucht eine wirklich neue visuelle Sprache, nach einer Form, die demokratische Instrumente tatsächlich allen Menschen zugänglich macht. Hier kann Kunst ihre Macht beweisen: durch ihre Vorstellungskraft.

 

2.

Das Projekt New World Summit, ein zweitägiger Kongress in Berlin am 4. und 5. Mai, stellt meine Antwort auf Żmijewskis Einladung dar. Politische und juristische Vertreter von Organisationen, die auf so genannten „Terrorlisten“ stehen, wurden eingeladen, im Rahmen eines alternativen Parlaments zu sprechen. Diese Listen enthalten Organisationen, die international als Staatsbedrohung gelten. In der Europäischen Union werden diese Terrorlisten von einem geheimen Komitee, dem so genannten „Clearing House“, aufgesetzt. Dies geschieht auf höchst undemokratische Weise: „Der Vorgang zur Hinzufügung oder Streichung von Namen auf der Terrorliste geschieht geheim durch ein Komitee, das sich für gewöhnlich zweimal jährlich trifft, und es gibt keine öffentlichen Aufzeichnungen dieser Prozeduren.“ (Quelle: “Adding Hezbollah to the EU Terrorist List” – Anhörung vor dem Unterausschuss zu Europa des Committee on Foreign Affairs House of Representatives, 20. Juni 2007).

 

Die Konsequenzen für diese Organisationen und für Menschen, die mit ihnen in Kontakt stehen, beinhalten das Einfrieren aller Bankkonten sowie Reiseverbote – wobei es uns gelang, bei letzteren einige legale Ausnahmen zu erreichen. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Wer auch immer das Gewaltmonopol in unserer Gesellschaft erlangt, entscheidet letztgültig darüber, wer Terrorist ist und wer nicht. Dabei ist der Terrorist nicht nur vom politischen Prozess ausgeschlossen, sondern auch vom Bereich des Gesetzes. Man denke an Gefängnisse wie Guantánamo Bay und Abu Ghraib oder das extraordinary rendition-Programm der C.I.A, mit dem Terrorverdächtige im Ausland gekidnappt werden, um in Gefängnissen verbündeter Staaten verhört zu werden, in der Regel unter Anwendung von Folter.

 

Eine der Konsequenzen ist die umfassende Schwächung des Verfassungsrechts. Seit jeder potentieller Terrorist ist, werden Bürgerrechte (wie die Privatsphäre) eingeschränkt, während die Macht des Staates über den Bürger und das Rechtssystem gestärkt wird. In diese Richtung geht auch die Forderung der Freedom Party, potentielle Terroristen auf bloßen Verdacht hin (das heißt ohne konkreten Beweis) zu inhaftieren. Immer lautet die unumstößliche Rechtfertigung dafür, Demokratie müsse flexibel auf ihre Feinde reagieren: den angeblichen Hass der Terroristen auf die freie westliche Welt und deren gefeierte Demokratien.

 

Dabei richten sich bei weitem nicht alle dieser Organisationen – die sich durch eine Bandbreite verschiedenster ideologischer Strömungen auszeichnen, von kommunistisch bis sozialistisch, von marxistisch bis anarchistisch, nationalistisch, rassistisch, religiös-fundamentalistisch und sektiererisch – gegen die Demokratie als solche. Einige der Organisationen unterstützen freie Wahlen und treten für die Gleichheit zwischen Mann und Frau ein, zwischen reich und arm, Mehrheiten und Minderheiten. Viele kämpfen für Selbstbestimmung und gegen militärische Besatzung oder andere Formen der Unterdrückung. Was der Westen in den vergangenen Jahrzehnten der Welt als „Demokratie“ verordnet hat, hatte nicht nur in Ausnahmefällen Korruption, Ungerechtigkeit und die Unterordnung lokaler Interessen unter die einer verwestlichten Elite und ihrer ausländischen Förderer zur Folge. Gute Beispiele dafür sind die jüngsten Invasionen in Irak und Afghanistan.

 

Die Organisationen auf der Terrorliste werden beschuldigt, Zivilisten mit Gewalt zu terrorisieren. Der 11. September ist dafür das extremste und am häufigsten genannte Beispiel. Dabei werden sie selbst von westlichen Militäroperationen terrorisiert. Was ist der grundlegende Unterschied zwischen den 3.000 Opfern der Twin Towers und den Hunderttausenden toter Zivilisten in Afghanistan und Irak als Folge der westlichen „Befreiung“? Terror und Staatsterror sind zwei Seiten einer Medaille.

 

Diese Beispiele sollen nicht der Rechtfertigung von Gewalt seitens dieser Organisationen dienen, sondern deutlich machen, dass die Kriterien, die als typisch demokratisch gelten – etwa freie Wahlen, die Gleichheit zwischen Mann und Frau, homosexuelle Ehe oder sogar Maßnahmen gegen Terrorismus – sich auch in vielen der Organisationen finden, die auf diesen Terrorlisten stehen. Folglich kennzeichnen diese symbolischen Qualitäten noch nicht per se eine demokratische Organisation oder einen demokratischen Staat.

 

Das gewaltsame Vorgehen der so genannten „Terroristen” spiegelt also das gewaltsame Vorgehen aufseiten der so genannten „Demokratien”. Der New World Summit hat zum Ziel, beide zusammen zu bringen, in der Schaffung eines politischen Raums. Eines Raums, in dem die Grenzen unserer jetzigen Systeme kartographiert werden. Eine Ergänzung zu unserer parlamentarischen Demokratie: eine Plattform für deren „Schattenseite“. Nur aus beiden gemeinsam erschließt sich die Weltordnung, in der oder gegen die wir uns heute positionieren müssen. Zusammen bilden sie ein Konfliktfeld, in dem wir definieren müssen, was wir eigentlich unter Demokratie verstehen.

 

3.

Genau diese Frage – was ist Demokratie und wofür steht sie? – kennzeichnet das Projekt, das in meinen Augen Kunst und Politik auf aussagekräftige Weise vereint.

 

Das Projekt, das ich verteidigen möchte, heißt fundamentale Demokratie. Nicht als exklusives Gut des Nationalstaats auf der einen Seite oder des „Terroristen“ auf der anderen, sondern für jeden, immer und unter allen Umständen. Ich glaube an Demokratie als universelle Bewegung. Eine Bewegung, die für einen nicht-exklusiven politischen Raum kämpft, in dem jede Stimme in der Lage ist sich Gehör zu verschaffen, gesehen und gespürt zu werden, ohne irgendwelche „Ausnahmefälle".

 

In meiner Funktion als Künstler möchte ich die Grundlagen für diesen politischen Raum schaffen. Ich will nicht innerhalb einer so genannten Demokratie Kunst herstellen. Ich will dazu beitragen, die Demokratie selbst zu gestalten. Und wie sich weltweit gezeigt hat, bin ich damit bei weitem nicht allein.

 

Unterzeichnet von:

Artur Żmijewski und Joanna Warsza (Kuratoren der 7. Berlin Biennale), Robert Kluijver (Kurator New World Summit), Younes Bouadi (Produzent New World Summit), Paul Kuipers/EventArchitectuur (Architekt New World Summit), Vincent WJ van Gerven Oei (Editor New World Summit), Kasper Oostergetel und Geert van Mil (Aufbau New World Summit), Sjoerd Oudman und das New World Summit Design Kollektiv (Design New World Summit).

„New World Summit” – ein Kongress mit Jonas Staal

Der „New World Summit” ist ein alternatives Parlament politischer und rechtlicher Repräsentanten von Organisationen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf internationalen Terrorlisten aufgeführt sind. [...]Mehr >

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