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Künstler Khaled Jarrar, Foto: Uwe Walter

EIn Interview mit Khaled JarraR

حسنا ياصديقي العزيز

Das Interview führte Daniel Miller

 

Lass uns mit deiner künstlerischen Entwicklung anfangen…


Ich bin nicht als Kind aufgewachsen. Ich bin als Kämpfer aufgewachsen. Als die Intifada begann, war ich elf Jahre alt. Anstatt in die Schule zu gehen, habe ich jeden Morgen Steine auf israelische Soldaten geworfen. Ich habe auch mit Holz und Steinen gespielt und kleine Skulpturen für die Karte von Palästina gebastelt.

 

Du warst ein Kämpfer…

 

Ich musste für meine Freiheit kämpfen, um meinen Hobbys nachgehen zu können, die von der militärischen Besatzung verboten waren.

 

Aber auch eine Art Kartograph...

 

Ja. Ich war auf der Suche nach meinem gestohlenen Recht auf Freiheit und meiner gestohlenen Identität, und das war ein Weg, mich selbst auszudrücken oder zumindest mit meiner Wut umzugehen.

 

Bist du noch immer ein Kämpfer?


Ich glaube, die meisten Menschen wollen gar keinen wirklichen Frieden haben, weil Frieden Verantwortung bedeutet und die meisten Menschen Angst vor Verantwortung haben. Was ich heute mache, das tue ich, weil ich mich verantwortlich fühle.

 

Ist deine Kunst eine Möglichkeit, Steine zu werfen?


Es gab immer einen Platz für die Kunst in meinem Leben. Ich war immer auf der Suche, aber die Besatzung war brutal und versuchte diesen Raum zu zerstören. Aber sie haben es nicht geschafft. Deshalb bin ich hier und zeige meine Arbeit auf der Berlin Biennale. Über meine Kunst zu sprechen ist eine Möglichkeit, konstruktiv und kritisch zu sein und etwas für die palästinensische Sache zu tun.

 

Was ist die palästinensische Sache?


Ich persönlich bin auf der Suche nach Bewegungsfreiheit, danach, Raum zu haben, um sich bewegen und arbeiten zu können, um an den Strand gehen und meine Freunde in Jerusalem, Tel Aviv und Jaffa sehen zu können. Was ich will ist die Einstaatenlösung, wo alle zusammen leben können, alle Menschen, die in diesem Gebiet leben, Juden, Moslems, Christen, Buddhisten oder wer sonst noch. Wenn du bleiben willst, dann lass uns bleiben und miteinander leben. Das ist die einzige logische Lösung. Aber diese Lösung ist auch die härteste.

 

Denkst du, es gibt genug Vertrauen zwischen den beteiligten Seiten, um das zu ermöglichen?


Nein... und das ist genau das Problem, an dem wir arbeiten müssen. Es gab bislang kein Vertrauen. Und die Grenzmauer und die Siedlungen produzieren mehr Hass. Aber wenn wir miteinander leben und uns treffen, reden, diskutieren, dann werden wir Nachbarn. Wie ich gesagt habe ... es braucht viel Zeit, aber es sollte geschehen, nachdem die israelische Regierung die Besetzung und das diskriminierende System gestoppt hat.

 

Die Menschen müssen ihre Einstellungen ändern…


Menschen sind von Natur aus eigensinnig. Mit der Entwicklung des allerersten Bewusstseins bilden wir Zu- und Abneigungen. Unsere Haltung zu Themen ist direkt mit unseren innersten Gedanken und Gefühlen verbunden. In der modernen Gesellschaft werden wir ständig mit Werbung und Unterhaltung bombardiert, die hart daran arbeiten, diese Gedanken und Gefühle zu beeinflussen. So hat die israelische Regierung die Bevölkerung manipuliert und sie paranoid gemacht, sodass die israelische Gesellschaft militaristisch bleibt und besessen von der Idee, dass Macht die Lösung ist. Durch diese Mittel kontrolliert sie weiterhin das Land und die Menschen.

 

Wie denkst du können Palästinenser und Israelis dazu beitragen, mehr Vertrauen zu erzeugen?


Vertrauen ist kein einfaches Wort... und es muss interpretiert werden. Einerseits möchte ich nicht den palästinensischen Standpunkt vertreten, weil ich fühle, dass es an der Zeit ist, den Konflikt von außerhalb zu betrachten, menschlich zu sein und neue Chancen zu finden. Aber ich denke, wir müssen anfangen, diese Fakten zu verstehen und dann eine reale Forderung zu entwickeln, um gleichberechtigt miteinander zu leben. Ein Beispiel: Die Palästinenser hatten immer eine Menge Wasser. Aber jetzt ist es ihnen nicht erlaubt, neue Brunnen zu graben. Die Israelis sind diejenigen, die das Wassersystem im Westjordanland kontrollieren und es den Palästinensern verkaufen. Und noch immer geben sie uns weniger als wir brauchen, während gleichzeitig die Siedler, die nebenan auf gestohlenem Land leben, keinerlei Einschränkungen haben. Es gibt viele solcherlei Beispiele. Es ist ein unfaires Apartheidsystem.

 

Was denkst du, warum den Menschen außerhalb Israels und Palästinas etwas an Israel und Palästina liegt?


Ich denke, dass ihnen etwas an Juden und ihrer Geschichte liegt. Das war auch die Antwort von Mahmoud Darwish an eine israelische Journalistin, die ihm die gleiche Frage stellte. Es sagte zu ihr: „Ich danke Gott, dass die Juden uns besetzt haben. Den Menschen liegt etwas an den Juden, und weil ihnen etwas an den Juden liegt, wissen sie von uns. Wenn uns jemand anderes besetzt hätte, dann hätte das vielleicht niemand gemerkt.“

 

Ich habe neulich über den Konflikt in Kaschmir gelesen. Es ist eine sehr ähnliche Situation, außer dass viel mehr Menschen getötet wurden. Aber die Welt interessiert sich nicht wirklich für diesen Konflikt.

 

Die Welt interessiert sich für Macht. Israel ist, wie du weißt, stark, und sie wissen, wie man die Rolle des Opfers spielt. Das jüngste Beispiel ist das Gedicht Was gesagt werden muss von Günter Grass  und die Reaktion, die darauf folgte. Das geschieht, wenn man in Europa Israel kritisiert...

 

Kunst und Politik scheinen im Palästinensisch-Israelischen Kontext eng miteinander verbunden zu sein. Oder ist das Ganze eine Illusion, hergestellt und exportiert vom Kunstmarkt?


Während ich an der International Academy of Art Palestine studierte, habe ich dort viele Künstler, Filmemacher und Wissenschaftler getroffen. Sie kamen nach Palästina, wurden bekannt und haben viel Aufmerksamkeit von Galerien und Kuratoren bekommen. Aber sie kamen oftmals hierher, um nur oberflächliche Arbeiten zu machen. Sie blieben einen Monat, oder zwei Wochen ... und ich denke, dass sie einfach etwas in ihren Lebenslauf schreiben wollten.

 

Nimmst du ihnen das übel?


Nicht unbedingt...ich bin weder gegen sie noch mit ihnen. Aber ich denke, dass wenn ein Künstler sich wirklich auf diesen Kontext beziehen will, dann sollte er in dieser Situation leben, sollte länger bleiben und sich Zeit nehmen, in diesem Konflikt zu leben und es fühlen...Kennst du Tintin?

 

Ja, natürlich...


Hergé hat in den 1940er-Jahren einen Tim-und-Struppi-Comic mit dem Titel Tintin in Palestine (Tim in Palästina) gemacht. Davon weiß man nichts mehr, weil er später umbenannt wurde in Im Reiche des Schwarzen Goldes. In der früheren Version waren die Bösen dargestellt von Juden mit Hakennasen. Die jüdische Lobby kam zu Hergé und sagte ihm, dass er einige Änderungen machen müsse. In der früheren Ausgabe wurde Tim von Engländern verhaftet, in der späteren von Arabern. Im früheren Buch wurde er von Juden entführt und im späteren von Arabern. Es ist wirklich amüsant, wenn man diese Bücher nebeneinander sieht. Das wird mein nächstes Projekt: Tim und Struppi.

 

Lass uns über Konflikt-Tourismus reden. Wie können wir mehr tun?


Ich versuche meine Projekte aus der eigenen Erfahrung heraus zu machen. Meine erste Ausstellung war eine Fotografie Ausstellung mit dem Titel At the Checkpoint. Ich habe mich entschieden, sie am Checkpoint selbst zu machen. Keine Institution oder Galerie war bereit, das zu unterstützen, weil niemand wusste, wer ich bin. Später habe ich verstanden, dass es viel innovativer ist, Dinge auf die Art zu machen, und ich habe weiterhin so gearbeitet und mich bei der Produktion meiner Kunst auf mich selbst verlassen.

 

Du sprichst von deiner künstlerischen Entwicklung. Aber ich frage nach Verantwortung.


Das klingt unschuldig, ist aber tatsächlich eine sehr schwierige Aufgabe. Wenn man sich zum Kunstschaffen bekennt, sowohl als Seelenfutter als auch, um tatsächlich satt zu werden, vermischen sich Kunst und Kommerz unweigerlich. Mit jeder weiteren Ebene der Sichtbarkeit und des finanziellen Erfolgs wird es schwerer, Kunst ohne den Hintergedanken an die Sofafarbe von jemandem zu machen. Also schaue ich mich nach meiner Verantwortung um. Als ich vergangenen Oktober in Paris war, ging ich in die ärmeren Bezirke und sah dort viele Obdachlose und Drogendealer. Ich fühlte die Verantwortung, weil alle meine Freunde mir sagten, „Paris, du hast so ein Glück, nach Paris zu fahren. Ich liebe diese Stadt, ich liebe Paris ... es ist so reizvoll und wunderschön.“ Also machte ich ein paar Fotos der Umgebung und stellte sie auf meinen Facebook-Account und schrieb: „Ich bin in Paris.“ Und meine Freunde antworteten: „Was? Das ist ein Flüchtlingslager! Das ist nicht Paris!“ Das Stereotyp von Paris ist, dass es reizvoll ist – Champs-Élysées, Moulin Rouge.

 

Das Stereotyp von Palästina ist: ein Typ, der Steine schmeißt, ein Mann mit einer Kalaschnikow, ein Junge mit Schal, Panzer, Konflikte. Wir müssen das aufbrechen ... wir müssen diese Bilder zerstören und die Wahrheit erzählen. Es gibt den Champs-Élysées in Paris, aber es gibt auch Armut in Paris. Es gibt einen Konflikt in Palästina, aber es leben auch Menschen in Palästina. Ich denke, das ist unsere Verantwortung: über die Realität zu sprechen und nicht Propaganda zu verbreiten.

 

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„State of Palestine” von Khaled Jarrar

Kahled Jarrar präsentiert sein Projekt „State of Palestine” in der Autonomous University von Indignados | Occupy Biennale. Mehr >
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