DIE 7. BERLIN BIENNALE RIEF SO VIEL DISKUSSIONEN HERVOR WIE NIE
Die Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst hat sich zu einem Format entwickelt, das Freiräume für kuratorische Konzepte abseits des Mainstreams zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion bietet. Mit der Wahl des Künstlers Artur Żmijewski zum Kurator der 7. Berlin Biennale hat sich die Berlin Biennale einmal mehr zu ihrem Anliegen bekannt, Handlungs- und Experimentierraum zu sein. Żmijewski und den von ihm ernannten assoziierten KuratorInnen Voina und Joanna Warsza ging es vor allem darum, den gesellschaftlichen Einfluss von Kunst und von Künstlerinnen und Künstlern zu stärken und damit ihre Verantwortung gegenüber sozialen Prozessen und Veränderungen zu manifestieren. An zwölf Orten in Berlin sowie in Eisenhüttenstadt verhandelte die 7. Berlin Biennale Kunst als Werkzeug gesellschaftlicher Transformation und präsentierte den über 120.000 Besucherinnen und Besuchern Versuche einer direkten politischen Einflussnahme.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Berlin Biennale war der Besuch für alle BesucherInnen kostenlos. Dadurch erreichte die 7. Berlin Biennale auch Öffentlichkeiten, die Kunstinstitutionen sonst selten ansprechen. Viele BesucherInnen nutzten die Chance, die 7. Berlin Biennale mehrmals zu besuchen und so ihrer prozesshaften Entwicklung zu folgen. Eine Zeitung informierte über alle wichtigen Aspekte der 7. Berlin Biennale und lieferte Texte zu den teilnehmenden KünstlerInnen und Projekten.
Wie keine Ausgabe zuvor löste die 7. Berlin Biennale bereits lange vor der Eröffnung ein breites Medieninteresse aus. Mit weit über 1.000 Artikeln in der Tages- und Fachpresse ist die Berichterstattung so umfangreich wie nie zuvor. Entsprechend der kuratorischen Forderungen wurden die Inhalte nicht mehr allein im Kunst-Fachbereich verhandelt – die extreme Resonanz auf die 7. Berlin Biennale umfasste über die gängigen Fachpublikationen hinaus vor allem auch die nationale und internationale Tagespresse sowie Nachrichtenmedien wie Al-Jazeera, CNN oder die Tagesschau.
Das Bestreben nach direkter politischer Einflussnahme führte zum prozessualen Charakter der 7. Berlin Biennale. Sie begann nicht erst mit der Installation von Kunstwerken im Ausstellungsraum und nach Ausstellungsende wird auch nicht einfach die Tür geschlossen und aufgeräumt. Bereits Monate vor der offiziellen Eröffnung am 26. April 2012 startete eines der ersten Projekte: Martin Zets Aufruf, einst erworbene Exemplare von Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab an deutschlandweit eingerichteten sogenannten Sammelstellen abzugeben, löste in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen aus. Dabei richteten sich die Kritik in den Medien, die vielen Protest-E-Mails und eine Demonstration auf dem Bebelplatz nicht gegen die in den Fokus genommenen fremdenfeindlichen Inhalte des Bestsellers, sondern gegen die unterstellte Absicht einer Bücherverbrennung.
Gleichermaßen sind mit dem offiziellen Ende der diesjährigen Berlin Biennale am 1. Juli 2012 die Prozesse, die sie angestoßen hat, noch lange nicht abgeschlossen. So findet zum einen in den kommenden Monaten eine Reihe von Aktionen der Solidaritätspartner statt, etwa im Rahmen des steirischen herbst oder im Schweizerischen Institut in Rom. Zum anderen wurden während der Laufzeit Projekte realisiert, die auch nach dem Ende der 7. Berlin Biennale weitergeführt werden. Die Dokumentation sowie die Diskussionen zu zur Ausstellung und den Projekten werden auf der Webseite der Berlin Biennale weiterhin zugänglich sein. Die Zeitung Self # governing von Marina Naprushkina vermittelt BürgerInnen in Belarus alternative Zukunftsszenarien politischer Teilhabe. Im Rahmen der 7. Berlin Biennale wurde die erste Ausgabe europaweit sowie insgeheim an hunderte Haushalte in Belarus verteilt. Welche Impulse und Veränderungen Naprushkinas gezeichneter Leitfaden für politische Möglichkeiten bei den LeserInnen angestoßen hat, bleibt abzuwarten.
Ähnliches gilt für das Projekt Berlin-Birkenau, das das Stadtbild Berlins in den nächsten Jahrzehnten verändern wird. Über die gesamte Stadt verteilt pflanzte Łukasz Surowiec einige hundert Birken aus der Umgebung des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Auf Schulhöfen und in Parks sowie in privaten Räumen und Gärten wachsen die Birken nun als lebendiges, dezentrales Denkmal. Ein anderes Beispiel für den flexiblen Rahmen, den solch eine Form der Ausstellung erfordert, ist die Peace Wallder mazedonischen Künstlerin Nada Prlja. Die Mauer am südlichen Ende der Friedrichstraße lenkte den Blick auf offensichtliche, aber selten ausgesprochene Segregationsprozesse. Die Künstlerin diskutierte vor Ort eingehend mit Gewerbetreibenden, AnwohnerInnen, BezirkspolitikerInnen und Medien. Obwohl ein Dringlichkeitsantrag zum Abbau der Mauer von der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg abgelehnt wurde, stimmte Prlja schließlich dem frühzeitigen Abbau der Peace Wall zu. Ebenso hätte die Mauer zum Zusammenschluss der Nachbarschaft und der Artikulation eigener Forderungen führen können. Ähnlich wie bei Martin Zet begab sich die Berlin Biennale hier mit einer provokanten Setzung in das unsichere Terrain öffentlicher Diskussionskultur – ein Wagnis, dessen Ergebnisse sich schwer voraussehen oder kontrollieren lassen.
Die 7. Berlin Biennale wirkte auf bezirkspolitischer Ebene, im Stadtbild und in Debatten zu Erinnerungskultur bis hin in den Aufsichtsrat eines der größten Waffenkonzerne in Deutschland. 2011 bestätigte der Bundessicherheitsrat den Verkauf von Panzern nach Saudi-Arabien, das seit März 2011 direkt an der Zerschlagung des arabischen Frühlings beteiligt ist. Die Künstleraktionsgruppe Zentrum für Politische Schönheit bittet auf einem Großflächenplakat in Berlin-Mitte und auf einer Webseite um Hinweise jeglicher Art, die zur Verhaftung der Konzerneigentümer führen können, da diese wegen ihrer Geschäfte rechtlich nicht belangt werden können. Im Verlauf dieser Initiative sprach sich bereits ein Mitglied des Aufsichtsrats öffentlich gegen den Handel mit Saudi-Arabien aus und wurde in der Folge aus dem Aufsichtsrat entlassen.
Neben Self # governing von Marina Naprushkina war die kollektive Perfomance Sonnenstrahl von Paweł Althamer eine direkte Reaktion auf Fragen nach Partizipation in Belarus. Althamer mobilisierte über 250 Menschen, die, in goldene Anzüge gekleidet, in der Dämmerung auf den Regierungspalast in Minsk zu gingen – in einer Stadt, in der ein zufälliges Treffen von ein paar Bekannten auf der Straße als illegale Versammlung gelten kann. Die Reise einer überdimensionalen Schlüsselskulptur aus dem Flüchtlingslager Aida bei Bethlehem zur 7. Berlin Biennale wurde zum Anlass genommen, die Marginalisierung des palästinensischen Narrativs innerhalb der deutschen Öffentlichkeit zu diskutieren. Mit Einreisestempeln und Briefmarken für Palästina, die Khaled Jarrar im Rahmen seines Projektes State of Palestine weltweit in Umlauf bringt, suggeriert der Künstler die Existenz eines bislang utopischen Staates und weist zugleich über feste nationale Zuschreibungen hinaus.
Innerhalb der zahlreichen Diskussionen um das Verhältnis von Kunst und gesellschaftlicher Veränderung in den letzten Jahren stellte Artur Żmijewskis Berlin Biennale einen entscheidenden praktischen Schritt dar, auch in der Adressierung von Selbsttäuschungen, die der Produktion „kritischer“ Kunst unterliegen. Wo zeigen sich deren Wirkungen tatsächlich? In den regionalen Missständen, auf die sie hinweist, oder vielmehr in den westlichen Zentren, in denen sie rezipiert wird und ökonomischen Mehrwert generiert? Das vom Künstler Renzo Martens mitgegründete Institute for Human Activities versucht, den Spieß umzudrehen und die Produktion an die Orte zu verlegen, an denen Gentrifizierung tatsächlich erwünscht wäre. Mit einem Workshop- und Stipendienprogramm auf einer Plantage im Kongo soll die lokale Bevölkerung dazu ermuntert werden, mit eigenen Werken vom globalen Kunsthandel zu profitieren. Mit einem vor Ort abgehaltenen Seminar im Rahmen der 7. Berlin Biennale nahm das Institut seine auf fünf Jahre angelegte Arbeit auf.
Über diese konkreten Ansätze hinaus haben andere Projekte der 7. Berlin Biennale mögliche Diskursanstöße für eine zukünftige Auseinandersetzung gegeben. Das von der israelisch-niederländischen Künstlerin Yael Bartana initiierte Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMiP) ruft zur Rückkehr von über 3 Millionen Jüdinnen und Juden nach Polen auf und wirft dabei Fragen nach dem Miteinander sowohl innerhalb Europas als auch in Israel und dem Nahen Osten auf. Der Erste Internationale Kongress des JRMiP entwickelte im Hebbel am Ufer (HAU 1) eine konkrete Plattform und formulierte Forderungen der Bewegung. Ein weiterer Beitrag zur politischen Diskussionskultur war der New World Summit des niederländischen Künstlers Jonas Staal, der in den Sophiensaelen politische und rechtliche VertreterInnen von Organisationen versammelte, die auf internationalen Terrorlisten geführt sind. Das alternative Parlament diskutierte die undemokratischen Methoden, mit denen Demokratien einzelne Interessen aus ihrem Repräsentationssystem ausschließen, sowie die Möglichkeiten der Einführung einer radikalen Demokratie in Europa.
Politisches Engagement steht immer auch in Zusammenhang mit der Frage nach gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Im Rahmen des Programms Theater that Acts, das in Kooperation mit dem Hebbel am Ufer entstand, strebte die Theatergruppe Kretakör um den ungarischen Regisseur Árpád Schilling mit der Performance Illumination im Theaterdiskounter ein Verständnis von SchauspielerInnen als politische Menschen an. SchauspielerInnen bei Krétakör verstehen sich als aktive Mitglieder der Gesellschaft, die die „Fassadenkunst“ (Marcin Śliwa im Reader Forget Fear) hinter sich lassen.
Als Teil unserer zeitgenössischen Gesellschaft sind die Occupy-Bewegungen, die 2011 mit M15 und Occupy Wall Street begannen, der wohl international am weitesten – besonders medial – verbreitete Ausdruck der Forderung nach gesellschaftlicher Mitbestimmung. Während der Laufzeit der 7. Berlin Biennale praktizierten VertreterInnen dieser Gruppen aus verschiedenen Ländern ihre Form des Protests und ihre Strategien der Involvierung im Erdgeschoss der KW. Die Nutzung des von der Institution zur Verfügung gestellten Raumes wandelte sich im Laufe der Ausstellung in den Wunsch, nicht nur die AusstellungsbesucherInnen als Mitglieder der Gesellschaft anzusprechen, sondern die Institution als Mediator zwischen Kunst und Gesellschaft in eine „horizontale“ Organisationsstruktur zu transformieren – Beispiel der ergebnisoffenen und selbstkritischen Methoden, mit denen Artur Żmijewski und die assoziierten KuratorInnen zeitgenössische Diskussionen um Ausstellungsproduktion um entscheidende Impulse bereicherten.
Die 7. Berlin Biennale ist keinem kuratorischen Konzept gefolgt, das den BetrachterInnen eine bestimmte Idee durch eine physische Anordnung von Kunstwerken vermittelt, sondern der Frage, wie Kunst zivile Einflussmöglichkeiten auf die Realität zu behaupten und die Gesellschaft kritisch sensibilisieren kann. Sowohl die AktivistInnen der Bewegungen als auch die teilnehmenden KünstlerInnen haben versucht, sich in konkreten politischen und gesellschaftlichen Belangen zu positionieren und damit einen Beitrag zur Verortung von Kunst in zeitgenössischer Politik zu leisten. Während der 7. Berlin Biennale zeigte sich mehr als einmal, wie ungemütlich die Auseinandersetzung von Kunst mit sich selbst und ihre Konfrontation mit der politischen Realität werden kann. Denn künstlerische und politische Verantwortung und Haltung sind immer auch begleitet von Skeptizismus, Widerrede, Risiko, Konfrontation und der Gefahr des Scheiterns. Die 7. Berlin Biennale forderte dazu auf, dieses Unbehagen, die Angst vor Konfrontation, vor Veränderung abzulegen und sich der Herausforderung gesellschaftlichen Wandels zu stellen.
DER KURATOR DER 7. BERLIN BIENNALE FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST
ARTUR ŻMIJEWSKI
Artur Żmijewski hat im Rahmen der 7. Berlin Biennale folgende Personen eingeladen:
Assoziierte Kuratorin
Joanna Warsza
Assoziierte KuratorenInnen
Oleg Vorotnikov (a.k.a. Vor), Natalia Sokol (a.k.a. Kozljonok oder Koza), Leonid Nikolajew (a.k.a. Leo the Fucknut) und Kasper Nienagliadny Sokol von Voina
GRAFISCHE GESTALTUNG
BUREAU Mario Lombardo
Künstlerinnen und Künstler der 7. Berlin Biennale
a
- Aida Flüchtlingslager
- Paweł Althamer
- Burak Arikan
b
- Charlotte Bank
- Anna Baranowski / Luise Schröder
- Yael Bartana & the Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMiP)
- Brimboria Institut
- BUREAU Mario Lombardo
c
- Lou Cantor
d
- Karina Dzieweczyńska
f
- Femen
- Filmpiraten
g
- Michał Górczyński
h
- Zafeiris Haitidis
i
- Institute for Human Activities
j
- Khaled Jarrar
- Joseph Beuys Theater & Teatr.Doc
k
- Andreas Kaernbach
- Kartenrecht
- Łukasz Konopa
- Ludwig Peter Kowalski
- Krétakör
- Krytyka Polityczna
l
- Bernd Langer
m
- Teresa Margolles
- Maciej Mielecki
- Mobinil
- Antanas Mockus
- Mosireen
n
- Marina Naprushkina
p
- Hermann Joachim Pagels
- Mirosław Patecki
- Pixadores
- Nada Prlja
- Public Movement
r
- Oleksiy Radynski
- Tomáš Rafa
- Joanna Rajkowska
- David Reeb
- Stefan Rusu
- David Rych
s
- Pit Schultz
- Jonas Staal
- Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
- Łukasz Surowiec
z
- Martin Zet
- Artur Żmijewski