Die Empörten sind unter uns

Von Marcin Śliwa

Ich bin krank und habe Fieber. Ich bin zuhause, verfolge die Empörten in den Nachrichten und mache Pläne. Für einige Zeit vergesse ich den Alltag. Auch ich verspüre Wut. Mein Kopf, heiß vom Fieber, produziert eine Reihe von Niesern und revolutionärer Gedanken. Jawohl, etwas ist da auf alle Fälle in Gange – und zwar etwas, das man nicht mehr rückgängig machen kann. Das liegt in der Luft. Es wird einen Bruch geben. Man spielt mit dem Gedanken, einer der Empörten zu werden, raus zu gehen und irgendwo sein Zelt aufzuschlagen. Aber irgendwie bin ich mir nicht sicher, dass das ein guter Zug wäre. Auf die Straßen zu gehen und mit Oberschülern im Chor nach Wohnungen für Alle und über das böse Wesen der Banken zu rufen. Irgendwie stimme ich nicht mit dem Linkspolitiker Ryszard Kalisz überein, der mit seinem Jaguar zu den Protesten gefahren ist. Wir sollten viel eher etwas „Empörtes“ tun, auf unserem eigenen Boden. Mir scheint, dass mit den Empörten eine gute Möglichkeit entstanden ist, über die Analogien verschiedener Bereiche des Systems zu reflektieren: die globale Wirtschaft und (spekulatives) Kapital sowie unsere eigene Welt, die Welt der Kunst und Kultur.

 

Wo befinden sich diese Analogien?

Ich frage mich, ob Kunst sich nicht manchmal wie das spekulative Kapital verhält – sie fällt über die Welt der Menschen, Gemeinden und Ideen her – gleichzeitig kapriziös und vorsätzlich. Manchmal bringt sie Menschen auf die Bühne und manchmal bläst sie unnatürliche Blasen auf, die zuerst dem Profit dienen, dann platzen und schließlich nicht mehr weiter interessieren – man zieht einfach weiter, zu anderen Sektoren. Hat unser Feld auch Machtzentren ausgebildet, die fernab liegen von Demokratie und Ideologie? Selbstbetriebene Mechanismen zur Produktion von Kapital – sprich Kunst? Jetzt, vielleicht mehr denn jemals zuvor, müssen wir wohl das Gefühl haben, dass dies so ist.

 

Man könnte noch weitergehen und fragen: Um welchen Preis? Wer zahlt ihn und was ist der Preis? Was genau opfern wir auf dem Altar des Systems, in dem wir mehr oder weniger freiwillig mitmachen? Stimmt schon, wir nutzen es auch für uns selbst und unsere eigenen Ideen. Dies steht außer Frage. Trotzdem, es wär extrem naiv, wenn wir glaubten, dass wir auch nur die kleinste Kontrolle über dieses System hätten. Sogar jetzt, wo wir gestärkt erscheinen, unterstützt durch das symbolische Kapital, das uns erlaubt auf breiterer Ebene zu agieren. Was also haben wir zu verlieren? Zu welchem Preis vermehren „sie“, „die bösen“ (oder womöglich nur die braven Beamten des Systems) die Gewinne? Wie übersetzen sich der globale Kapitalismus und das Kapital in unsere Institutionen? Warum hat sich das System uns als seine Diener ausgesucht, dass wir diese Art von Krediten gutheißen? Gibt es eine klare Aufzeichnung von Verlusten und Gewinnen und sind wir diesen Pakt bewusst eingegangen?

 

Last but not least in dieser Litanei der Fragezeichen stellt sich die Frage nach Identität: wo verläuft der schmale Grad, der uns von den „Empörten“ trennt? Selbst wenn wir eine Hommage für sie veranstalten, ihre Forderungen unterstützen und sie in unsere Szene einladen, trotzdem bleibt ETWAS. Etwas, über das es sich zu nachdenken lohnt, ja etwas, angesichts dessen wir über Jahre und Jahrzehnte hinweg ein neues Programm schreiben könnten...

 

In meinem Kopf entspinnt sich eine Mission: die Kunst- und Kulturinstitutionen aus dem System wachzurütteln, indem ich mir die Welle der Wut der Empörten zunutze mache. Eindeutige Analogien werden dabei helfen, die Mechanismen der eigenen Reproduktion des Systems, die sich mit der Zeit ausgebildet haben, einzukreisen und aufzudecken. Gleichwohl, man muss die Macht der Kunst als Medium der Bewusstseinsbildung und Hilfsmittel zum Wandel nicht unbedingt insgesamt erodieren. Wir kämpfen gegen die Verzerrungen des Systems, nicht gegen die Idee an sich. Eine gewisse Dosis an Selbstkritik und Selbstbewusstsein seitens derjenigen, die dem System zumindest teilweise folgen – also quasi wir selbst – würde unsere Position glaubwürdiger machen. Lasst uns die Warren Buffetts der Kunst und Kultur werden! Lasst uns Multimillionäre werden, die nach Besteuerung rufen! Wie kann man sich selbst schmälern, um den noch weiter unten Sitzenden eine Stimme zu geben?

 

Wir wissen ja, wie viel täglich andauernd in den Kampf mit den Prozeduren in unseren eigenen Institutionen und mit den Kunst-Brokern draußen fließt. Dafür steht auch das Gefühl, dass das System uns unmerklich aufsaugt, indem es uns eine Menge Fetische für unser Ego anbietet, somit gleichzeitig ohne jegliche Rücksicht die Grenzen unserer Revolte deutlich macht – sie nämlich lediglich als Widerstand innerhalb des Systems selbst entblößt. Irgendwo verlieren wir uns dann im Laufe dieses Kampfes selbst. Verlieren unsere Frische, erleiden Burn-Out und passen uns an – an das System natürlich. Wir haben noch nicht einmal gemerkt, wann genau – wir und vielleicht sogar die Empörten selbst – zum Mainstream geworden sind.

 

Wir müssen selbst ein Programm schreiben, die Leute, die wir die Institutionen wie unsere eigene Westentasche kennen und die wissen, wie viel Energie es täglich kostet, eine Mission, Ideen, Ziele zu verfolgen, also das, wozu die Institutionen ursprünglich tatsächlich einmal gegründet wurden, dies jedoch schnell ablehnten: Sie bieten schon seit längerer Zeit weder Hilfe noch Zusatz. Wir haben auch den massenhaften Ansturm von Künstlern erlebt, die diese Prozeduren effektiv nutzen – gefördert durch das System, reproduzieren sie hohle Werke, dünne Hybride, die aufs zweifache gefährlich sind, da sie einer ideologischen Leere eine Maske vorschieben. Manche von ihnen haben sich wahrscheinlich den Empörten auch schon längst angeschlossen oder werden zumindest bald dort mitmachen.

 

Aus diesen Gründen müssen wir die Institutionen verändern. Und wenn das nicht geht, müssen wir sie entblößen und unsere eigenen Institutionen aufbauen. Wir verfügen bereits über einige nachweislich erfolgreiche Ideen, wie man dies friedlich, ohne Guillotine und Blutvergießen tun kann. Eine große Zahl „Prozeduralisten“ schafft man relativ leicht aus der Matrix herauszuschütteln und von etwas anderem zu überzeugen. Für viele wird dies als eine Offenbarung kommen. Und uns wird es Kraft und Hoffnung verleihen und das Risiko des Burn-Out vermindern. Der Unterschied zwischen uns und den Empörten ist, dass wir zum System dazugehören, obwohl wir das Recht haben, uns für eine Art gute Kraft zu halten. Wir sollten also die Worte „Ideen und Ziele – nicht Prozeduren!“ zur Tat machen. Sie können zum Programm unserer Institutionen werden. Sind Sie mit dabei?

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Occupy Wallstreet. Foto: Joanna Warsza, 2011

Kommentare

  1. Daniel Gallmann

    Wer an einem für die Gesellschaft relevanten Fortgang der Kunst Interesse hat, muss sich Gedanken über die derzeitige Alleinherrschaft des Marktes und seiner Mechanismen machen. Ich bin froh, dass Sie das tun.
    In einer Gesellschaft in der Bewegung zum unhinterfragten Selbstzweck geworden ist, nehme ich eine Position des Innehaltens ein – Innehalten als eine Qualität gegen den Alleinanspruch des Fortschreitens. Mit dem endlosen Repetieren von zwei elementaren Urbildern hinterfrage ich den Innovationszwang des Kunstsystems und versuche, dem Kunst(-produkt)system eine Haltung entgegenzusetzen.
    Mit freundlichen Grüssen
    Daniel Gallmann
    http://www.daniel-gallmann.ch

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