Kommentar von Chantal Mouffe

Ich halte Martin Zets Projekt für eine legitime Initiative. Er interessiert sich für die Meinung derjenigen, die das Buch gekauft haben. Mit der Einladung, das Buch zu stiften, gibt er ihnen die Möglichkeit, sich gegen dessen Inhalte zu positionieren. Der Künstler darf dies tun und es handelt sich dabei um eine demokratische Handlung. Vermieden werden sollte, lediglich eine moralische Verurteilung des Buches zu erzielen und keine ernsthafte Diskussion darüber zu führen. Für mich stellt dieses Kunstprojekt eine Möglichkeit dar, auf visuelle Art auf Thilo Sarrazin zu reagieren und ist ein Vorschlag für eine agonistische Diskussion. Problematisch finde ich, dass viele Menschen das Buch einfach ablehnen, ohne zu fragen, was es innerhalb der deutschen Öffentlichkeit berührt. Was macht es zu einem solchen Bestseller? Sollte Zets Aufruf sehr schwache Reaktionen hervorrufen, heißt das dann, dass das Buch von seinen Lesern mit großem Ernst behandelt wird? Es wird spannend sein, zu sehen, was passiert. Man sollte sich auch fragen, warum manche Leute mit einem Aufruf zur Sammlung gebrauchter Bücher Flammen assoziieren. Was verraten uns die ersten Reaktionen auf das Projekt über die gegenwärtige Psyche der deutschen Gesellschaft? Das Recycling-Zeichen hätte mich niemals an eine Bücherverbrennung denken lassen. Es suggeriert vielmehr, es wieder zu verwerten und damit etwas Anderes zu veröffentlichen. Es erinnert an die situationistische Strategie des Detournement. Flammen zu sehen hat eher etwas mit der deutschen Psyche zu tun, als mit der tatsächlichen Bedeutung, auf die Martin Zet mit seinem Projekt abzielt. Die Leute der Linken ignorieren oft, welche Rolle der Affekt spielt. In der zeitgenössischem Politik versuchen bedauerlicherweise lediglich die populistischen Parteien der Rechten, die Bürger mittels Emotionen zu mobilisieren. Warum aber sollte nicht auch die Linke damit arbeiten? Affekte und Leidenschaften stellen sehr wichtige politische Triebkräfte dar und sie können auch auf progressive Weise mobilisiert werden. Es gibt eine Leidenschaft für Gleichheit und es gibt eine Leidenschaft für Gerechtigkeit. Das sollte ein wichtiges Feld für Interventionen einer kritischen Kunstpraxis darstellen.

7-berlin-biennale-sarazzin

Kommentare

  1. Reffke

    Reffke
    22.01.2012 um 01:28
    Der Tcheche Martin Zet hat offenbar weder die Bücher von Václav Havel noch das von Thilo Sarrazin gelesen, schlimm sowas:
    er bezieht sich nämlich garnicht inhaltlich auf Sarrazin, sondern einfältig immaginär, bedient so die niedrigsten Instinkte des linken Plebs, der nur weiter leben kann, wenn man seine Lebenslüge nicht entlarvt… Pfui, Buh, Igit!
    Ich kann ihm nur raten wenigstens das Essay “Versuch, in der Wahrheit zu leben” zu lesen:
    Der Rufmord an Sarrazin ist beänstigend und beispiellos, aber auch mit der Dämonisierung von weilen Biermann, Havemann oder eben Václav Havel zu vergleichen: die Bonzen haben sie auch nicht gelesen… komisch…
    Mit konditionierten Reflex bellen die Pavlovschen Hunde, die “linken” Medien reduzieren ihr kritisches Urteil auf linientreues Papalapap, ein ideologiosches 1×1, das heute nichtmal mehr zur Milchmädchenrechnung taugt und trampeln im Gleichschritt: Marsch!
    Ich bin erschüttert über die Gedankenlosigkeit der Organisatoren der Berliner Biennale, nutzen sie die Chance, sich rechtzeitig zu besinnen!
    Zitat:
    “Havels Werke wurden nur noch durch verbotene Selbstdrucke und Abschriften verbreitet. Erneut klaffte der Abgrund zwischen selbst gewähltem Lebensinhalt und totalitärem System auf. Doch die Okkupation der Tschechoslowakei hatte den Westen sensibilisiert. Havel als Vertreter der unabhängigen tschechoslowakischen Kultur fand bei westlichen Bühnen und Verlagen Beachtung.
    Im eigenen Land wurde dagegen auch die leiseste unabhängige Äußerung im Keim erstickt. 1976 schritten die Behörden gegen die Rockgruppe „The Plastic People of the Universe“ ein. Ivan Martin Jirous, der Manager der Gruppe, und die Musiker wurden vor Gericht gestellt. Bei Václav Havel schellten die Alarmglocken. Denn hier handelte es nicht darum, dass die Machthaber einen politischen Gegner zum Schweigen bringen wollten. Die unkonventionellen, langhaarigen Musiker waren gänzlich unpolitisch. Sie wollten nichts weiter, als die Musik spielen, die ihnen gefiel.
    Václav Havel verstand die Repressionen gegen die Gruppe „The Plastic People of the Universe“ als einen Angriff, der das Leben selbst bis ins Mark traf. Und das gehe alle etwas an, fand Havel, denn die Freiheit sei unteilbar. Er mobilisierte Unterstützung für die Plastic People. Der Prozess gegen die Rockgruppe wurde so zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Charta 77 erblickte das Licht der Welt. Havel wurde einer ihrer Sprecher. Das Dokument forderte die Einhaltung der Menschenrechte und der bürgerlichen Grundfreiheiten. Die Charta 77 pochte dabei lediglich darauf, die geltenden Gesetze zu respektieren. Die Unterzeichner nahmen die Regierenden beim Wort und entlarvten so das formale Rechtssystem als bloßen Schein. Sie demaskierten den Unrechtsstaat. Sie zeigten mit dem ausgestreckten Finger auf des Kaisers neue Kleider und riefen: „Der Kaiser ist nackt.“
    Zitat Ende
    http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/des-kaisers-neue-kleider-vaclav-havel-und-das-leben-in-wahrheit

  2. Paul Mittelsdorf

    Sie schreiben: “Problematisch finde ich, dass viele Menschen das Buch einfach ablehnen, ohne zu fragen, was es innerhalb der deutschen Öffentlichkeit berührt.”
    Nein, das ist nicht das Problem. Viele Menschen, vor allem Politiker, Journalisten und Menschen, die eher links verortet sind, lehnen das Buch ab, ohne es 1. gelesen zu haben und ohne 2. Argumente dagegen vorzubringen, die sachlicher Natur wären. Und nachdem das getan wurde, wird allgemein festgestellt, daß es die Deutschen verhetzt, radikalisiert und daß es Brücken einreißt und solche Sachen. Ihr Satz ist vollkommen verquert und müßte so lauten: “Problematisch finde ich, dass viele Menschen das Buch einfach ablehnen, ohne es zu kennen und ohne auf die Thesen sachlich einzugehen und trotzdem pauschale, emotionale und nicht nachprüfbare Rückschlüsse darauf ziehen, was es innerhalb der deutschen Öffentlichkeit berührt.”

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