Kathrin Rhomberg im Katalog der 6. Berlin Biennale

Kann [die Kunst] disparate Wirklichkeiten wahrnehmbar machen und zur reflektierten Teilhabe an ihnen auffordern? Das ist die zentrale Frage, die in der 6. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gestellt werden soll. Wie kann sie für die Betrachter zur Vergewisserung ihrer selbst und der Welt beitragen, wie dazu, dass sie anwesender in dieser Welt sind? Verfügt die Kunst über Möglichkeiten, die etwa dem Film oder anderen Medien und Kunstformen nicht zur Verfügung stehen? Wie kann sie Aufmerksamkeit für den Abstand zwischen öffentlich behaupteter Scheinwirklichkeit und persönlicher Lebenswirklichkeit schaffen, wie ihn kritisieren und bewusst machen? Wie kann sie fremde und unbekannte Wirklichkeiten anders als durch hermetisch abgeschottete Erzählformen vermitteln und damit dieses Fremde auf die eigene Wirklichkeit zurückspiegeln? Wie lassen sich heute inmitten der Bildmächtigkeit und Bilderfülle, die unsere Medien unablässig produzieren, Wirklichkeit und ein kritischer Blick auf die Verhältnisse, die sie begründen, überhaupt noch herstellen? Welches Verhältnis schließlich nimmt die zeitgenössische Kunst zur Gegenwart und ihrer „Passion für das Reale“ ein?

 

Auf keine dieser Fragen werden in der Ausstellung befriedigende Antworten zu finden sein. Ihr Ziel ist es nicht, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Sie hat dieses Ziel dann erreicht, wenn es ihr gelungen ist, Aufmerksamkeit für die Fragen zu schaffen. Im vorliegenden Katalog zur Ausstellung ist auch deshalb auf vollständige und argumentativ in sich abgeschlossene Beiträge verzichtet worden. Stattdessen wurde die Form der Gesprächsrunde gewählt, deren inhaltlicher Verlauf als einzige Vorgabe hatte, über Wirklichkeit zu diskutieren.

 

Rekapituliert man die Entwicklungen und Tendenzen der letzten beiden Jahrzehnte, wird man feststellen müssen, dass sich die Gegenwartskunst der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche nicht hat entziehen können. Die Hoffnung, ihre traditionelle Widerständigkeit gegen Herrschafts- und Machtverhältnisse würde deren erstickende Vereinnahmung verhindern, hat eingedenk ihrer Geschichte ebenjenen Wirklichkeitssinn vermissen lassen, an den diese Ausstellung plädieren will. Nicht nur die Finanzwelt, auch der Kunstbetrieb hat sich zuletzt in eine wirklichkeitsferne Sphäre hochgeschraubt, in der Fantasien regieren und man nach wie vor davon überzeugt ist, dass sich selbst der offensichtlichste Schein als bedeutungsvoll erweisen werde. Die Kunst hat sich in diesem ökonomisch determinierten System radikal dereguliert, hat im Namen der Freiheit ihre Autonomie und oft auch ihre Inhalte abgeworfen. Wie unsere Welt ist sie geprägt von Ökonomisierung, Unübersichtlichkeit und Fragmentierung. Dabei scheint eine Verbindung zu existieren zwischen der Unmöglichkeit zur Orientierung in einer durch globale Krisen verunsicherten Welt und neuen Formen des Historismus, des retrospektiven Blicks und der Rückkehr zu ästhetischen und formalen Fragestellungen, die wir seit einigen Jahren in der westlichen Kunstwelt beobachten.

 

Zu diesem in der Kunst gegenwärtig vorherrschenden Blick, der sich nicht auf das richtet, was draußen wartet, der viel eher ein introspektiver Blick ist, sucht die Ausstellung alternative Blickwinkel.

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6. Berlin Biennale. Katalog

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