Artur Żmijewski

Künstler und Kurator, 7. Berlin Biennale, Berlin und Warschau

Berlin ist heute eine Stadt der Künstlerinnen und Künstler und betrachtet die Kunst als identitätsstiftendes Element der Metropole. Eigentlich müsste sie ihre KünstlerInnen wie einen Schatz pflegen, doch die jüngsten Ereignisse in der Berliner Kulturpolitik scheinen sie eher zu bedrohen. Ende 2010 regte der Regierende Bürgermeister eine »Leistungsschau« junger KünstlerInnen an, die dann im Sommer 2011 unter dem Namen based in Berlin realisiert wurde. Wundersamerweise fanden sich sogar Gelder – ein kleinerer Teil war bereits im Berliner Landeshaushalt bereitgestellt, der größere Teil kam von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin. Öffentliche Ausstellungshäuser, unabhängige Ausstellungsmacher­Innen, Vereine und zahlreiche KünstlerInnen staunten enorm über den Geldsegen. Wenn für eine politisch gewollte Ausstellung plötzlich 1,6 Millionen Euro zur Verfügung stehen, dann macht das vor allem Eindruck auf Menschen, die sich fragen, woher sie Mittel für die laufenden Programme öffentlicher Kunsteinrichtungen nehmen und wie sie die knappen Kulturmittel unter den zahlreichen AkteurInnen der Berliner Kunstszene verteilen sollen. Ich kenne die finanziellen Nöte der KW Institute for Contemporary Art, doch die Finanzlage anderer Kulturinstitutionen ist ebenso prekär.

 

In dieser Situation legt der Berliner Bürgermeister kurz vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Geld auf den Tisch. Wie, wenn nicht als schreckliches Dilemma, sollte die Öffentlichkeit diese Geldvergabe verstehen? Mit den politischen Absichten der Ausstellung sind sie nicht einverstanden, aber sie akzeptieren es, Teil davon zu werden. Keine weitsichtigen »PolitikerInnen« oder KulturstrategInnen hätten Zweifel, dass es so kommen würde.

 

Einige von denen, die gegen die Ausstellung aufbegehrten und einen unter anderem vom unabhängigen Salon Populaire initiierten offenen Brief unterschrieben, haben schließlich ihre Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, ohne sich inhaltlich involvieren zu lassen – ein schlechter Kompromiss. Alles, was diesen Kulturbereich ausmacht, also Freiheit der Kunst, kritische Haltung, soziale Sensibilität, Kreativität und Individualismus, wurden von einem Menschen mit sogenanntem »politischem Talent« missbraucht. Statt bei der Lösung drängender Probleme der Stadt politisch zu punkten – jedes dritte Kind in Berlin-Mitte lebt an der Armutsgrenze1; Berlin hat die höchste Arbeitslosenquote in ganz Deutschland (7 % im Bundesdurchschnitt2), 16,4 % in Berlin-Mitte und rekordverdächtige 20 % in Berlin-Neukölln3 –, versucht der Regierende Bürgermeister, einfache Punkte in der Kunst zu machen, die einst als soziales enfant terrible galt, heute aber als »Dekoration des Systems« herhalten muss. Die Kunst ist heute nicht mehr nur eine intellektuelle Safari für PhilosophInnen, sondern auch eine politische Safari für PolitikerInnen und KommunalbeamtInnen. PolitikerInnen scheinen statt der »Basisarbeit« die »Arbeit am Überbau« zu bevorzugen, denn dort erhoffen sie sich schnelle Erfolge, die sich medial leichter konsumieren lassen, auch wenn es sich um Proteste handelt. So kann man sich ein Image als PolitikerIn verschaffen, die / der keine Kontroverse fürchtet – in der Politik grenzt das schon an wahren Mut. Die defragmentierte und geschwächte Berliner Gemeinschaft der KünstlerInnen, KuratorInnen und LeiterInnen von Kultureinrichtungen hatte der zynischen Politik nichts entgegenzusetzen. Eine politikfreie Kultur wird häufig leichtes politisches Opfer derer, die das Machtspiel besser beherrschen. Die KünstlerInnen, die sich von der globalen Kunstwelt und sich selbst zu Individuen formen ließen, konnten keine homogene Gruppe bilden, um der Manipulation widerstehen zu können. Sonst so kapitalismuskritische KünstlerInnen und BefürworterInnen jeglicher Systemkritik haben die Auseinandersetzung verloren, weil sie sich paradoxerweise von der Logik des neoliberalen Ausbeutungssystems unterdrücken ließen. Schließlich sind sie ja kein Kollektiv mit politischen Ambitionen, sondern eher ein zerstreutes Netzwerk von IndividualistInnen und eine lose Verbindung zahlreicher Gruppen, die für ihre partikulären ökonomischen oder symbolischen Interessen eintreten und nicht das Wohl aller »Kunstarbeitenden« im Sinn haben. Sollte man based in Berlin deshalb vielleicht als neues Kapitel in den Beziehungen zwischen der Kreativschicht und dem despotischen und launischen Mäzen, zu dem sich die Kommunalverwaltung entwickelt, betrachten? Demnach könnten die Eckpunkte dieser Übereinkunft wie folgt lauten: Die Formel »unsichtbare« Kunstmesse sollte auf nicht kommerzielle Galerien erweitert werden; der Geldfluss sollte in Gang gebracht werden: Zunächst wird viel in eine Ausstellung und die entsprechende Werbung investiert; KünstlerInnen erhalten Geld, um neue Werke zu produzieren, die dann von kommerziellen Galerien verkauft werden können; so werden die Mittel zwischen KünstlerInnen und kommerziellen Galerien aufgeteilt; nicht kommerzielle Kunsträume hingegen können ihre Programme fortführen, weil sie nicht nur Mittel aus der Vermietung ihrer Räume an Gäste einnehmen, sondern darüber hinaus Geschenke in Form fertiger Ausstellungen erhalten.

 

Haben wir es hier mit einer Art stillschweigend hingenommener Manipulation zu tun, bei der Angst, Opportunismus, Gewinne und Notwendigkeiten sich zu einem Knoten verbinden, der von PolitikerInnen eifrig festgezurrt wird, während sie eigentlich dazu berufen sind, ihn zu lösen? Diese PolitikerInnen vernachlässigen ihre demokratischen Aufgaben, weil sie KünstlerInnen, Leiter­Innen von Kultureinrichtungen und KuratorInnen Opportunismus und Unterwürfigkeit den Regierenden gegenüber aufzwingen. Wenn Kunst und Politik sich in dieser Form gegenüberstehen, verkommt die Kunst zu einer Klientel der Politik. Ist es das, was wir für die Kunst wollen? Wollen wir diese Mechanismen der Mittelverteilung, bei denen KünstlerInnen ohne transparente Kriterien und einzig nach Laune des Geldgebenden zu Günstlingen der Kulturpolitik werden, hinnehmen? Das ist keine demokratische Politik. Oder wollen wir etwa eine Politik, die sich selbst durch die eigene Manipulationen diskreditiert? Wollen wir, dass Politik, die eigentlich unser aller Eigentum ist, zu Manipulationen missbraucht wird und ein System undurchsichtiger Verstrickungen verwaltet? Solche Regierungsformen sind intransparent und fördern eine »Kultur der Lügen«, in der kein ehrlicher Meinungsaustausch stattfindet. Erlaubt und notwendig ist dabei nur ein schöner Schein, der potenzielle SponsorInnen nicht vergrault. Wenn wir dieser Definition von Politik zustimmen, werden wir zum perfekten Publikum des Machtspiels: nachgiebig, versöhnlich, kompromissbereit und – nicht überraschenderweise – gemäßigt in seinen Urteilen.

 

Wenn wir aber die Berliner Kulturpolitik lautstark auch aus der Perspektive der inter­nationalen in Berlin ansässigen Künstlergemeinschaft kritisieren, dann formulieren wir gleichzeitig politische Kriterien und werden selbst zu politischen Subjekten, die zwar mit vielen Stimmen sprechen, aber ein gemeinsames Ziel vor Augen haben: vernünftige Kulturpolitik mit anständiger Finanzierung ohne Abstriche in anderen Bereichen. Kultur beschert der Stadt Einnahmen, doch diese sollten an die KünstlerInnen und Kul­ turinstitutionen zurück­fließen. Die Kunst übernimmt als Medium mit hoher sozialer Sensibilität Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und erfüllt diese mittels der eigenen gesellschaftskritischen Haltung. Könnte sie denn nicht auch aktiv gegen Gentrifizierungsprozesse vorgehen, wenn sie diese oft selbst auslöst?

 

Unpolitische Kunst ist eine Illusion – eine sehr gefährliche Illusion, die von den Künstler­Innen selbst aufrechterhalten wird. Die Politik zu verdrängen ist ein Fehler, denn alles Verdrängte kommt irgendwann zurück, und meistens als Albtraum. So war es auch im Fall der Intrigen um based in Berlin, als unpolitische KünstlerInnen sich von einer zynischen Politik benutzen ließen. Diese kehrte als gerissener Gegner zurück. Wenn Kulturinstitutionen künstlerische Programme verwirklichen, die in Wirklichkeit Regierungsprogramme sind, dann verlieren sie den Rückhalt in der Bevölkerung. Sie verlieren das Vertrauen, weil sie Forderungen nachgeben und Interessen einer professionellen Politikerkaste vertreten, deren Ziel eher der Machterhalt und nicht die Interessen ihrer WählerInnen sind. Problematisch genug ist die Tatsache, dass die heutige Kunst hauptsächlich individuelle Ambitionen der KünstlerInnen und somit Interessen von Mitgliedern neoliberaler Eliten vertritt. Um diesen Einsatz wird hier gespielt.

 

Ein erster Schritt zur selbstbewussten Kunst ist die klare Ausformulierung der Forderungen und ihre Vereinbarung mit den Forderungen anderer sozialer Gruppen. Wenn man mithilfe der Kunst politisch punkten kann, bedeutet es, dass sie ein wichtiger Faktor im öffentlichen Leben sein muss, dass sie das Image Berlins mitgestaltet, das Wirtschaftswachstum ankurbelt und TouristInnen anzieht. Doch sie darf sich nicht den PolitikerInnen für ihren Wahlkampf andienen. Die Regierenden benutzen das eigene Image, das wir für wahr betrachten: EntscheidungsträgerInnen, die von oben herab regieren, ohne die Meinung der Regierten einzubeziehen. Doch das ist die falsche Perspektive – die Regierung, auch die kommunale, ist einer der Knotenpunkte in einem Netz politischer Subjekte, die sich gegenseitig das Erreichen sozialer Ziele aufzwingen. Demnach ist es die Aufgabe von uns Kulturschaffenden, von den Regierenden die Erfüllung unserer Forderungen zu erzwingen und das künstlerische Agieren auf Erstrebenswertes auszurichten. Eines der Ziele dieses Handelns könnte ein gutes Bildungssystem oder eine selbstbewusste kritische Gesellschaft sein, die demokratische Grundsätze durchsetzt. Kürzungen der Kulturhaushalte zeugen nur davon, dass sowohl Regierungen wie auch politische VerantwortungsträgerInnen sich durchaus der Tatsache bewusst sind, wie wichtig die Kunst als Bildungsfaktor ist. Wer Kulturmittel kürzt, strebt offensichtlich eine dumme Gesellschaft an, die man einfach nur noch verwalten muss.

 

Der Widerstand dagegen und ein kollektives Handeln der deutschen und internationalen Künstler- und Kulturgemeinschaft in Berlin wäre der Versuch, den Bedeutungsverlust engagierter Intellektueller rückgängig zu machen. Gemeint sind Intellektuelle, die sich nicht zurückziehen, sondern Verantwortung für gesellschaftskritisches und politisches Handeln übernehmen. Ein weiterer wichtiger Aspekt steht im Raum – das Vertrauen der KünstlerInnen in Kunstinstitutionen. Dieses Vertrauen beruht auf einem einzigen anerkannten Kooperationsmodell: der totalen Freiheit der KünstlerInnen in einem von der Institution abgesteckten Bereich oder im thematischen Rahmen einer Ausstellung. Seitdem ich als Kurator agiere, begegne ich großem Misstrauen der KünstlerInnen gegenüber der Berlin Biennale. Sie fürchten Manipulationen, wollen nicht ausgenutzt werden und haben Angst vor der Missachtung ihrer professionellen Fähigkeiten. Doch diese Situation ist pathologisch. Viele schenken mir sicherlich wegen meiner eigenen künstlerischen Handlungen in der Vergangenheit kein Vertrauen, doch ich handelte stets mit vollem Einverständnis aller Teilnehmenden. Die erste Instanz, der KünstlerInnen vertrauen sollten, ist die Institution beziehungsweise sind die KuratorInnen, und umgekehrt genauso. Wenn sie im gemeinsamen Handeln stets fürchten, ausgenutzt zu werden, bedeutet es, dass der Mangel an Vertrauen alltäglich geworden ist.

 

Die Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen KünstlerInnen und Institutionen, bei dem es keine Zensur gibt und mehr als nur »gesellschaftskritische Äußerungen mit Samthandschuhen« erlaubt sind, ist die Pflicht einer jeden Kultureinrichtung und die Pflicht beider Seiten. Permanente Klassifizierungen der Künstler­Innen in Radikale und nicht Radikale zwingen diese nur zur Nachgiebigkeit und schaden ihrer Kunst. Sie machen KünstlerInnen entweder zu KritikerInnen ohne Einfluss oder zu künstlerischen, im schlimm­sten Fall auch politischen DissidentInnen. Die Aufgabe des Teams der Berlin Biennale als einer der bedeutendsten Ausstellungen dieser Stadt ist eine Reaktion auf die Krise, die die Kunstszene erfasst hat, und die Unterstützung jener, die bereits begonnen haben, die Situation zu verändern. Die Berlin Biennale sollte keine Gedanken daran verschwenden, wie viele BesucherInnen sich in die Ausstellungsräume locken lassen, sondern sich darauf konzentrieren, tatsächliche Probleme zu lösen. Das ist die politische Aufgabe der Biennale. Ich bin der Meinung, Menschen der Kunst sollten sich wieder der Politik zuwenden, die dazu da ist, unsere Rechte durchzusetzen und uns Entfaltungsmöglichkeiten als handlungsfähige Subjekte zu verschaffen, statt als nachgiebige Manipulationsobjekte zu verharren.

 

Ich bin der Meinung, dass ein neues gesellschaftliches Abkommen zwischen KünstlerInnen – jenen aus Deutschland und aus dem Ausland – sowie KuratorInnen, Leiter­Innen, VertreterInnen kommerzieller und nicht kommerzieller Kultureinrichtungen in Berlin und PolitikerInnen auf der anderen Seite formuliert und unterzeichnet werden muss, um der Situation Herr zu werden. Ein solches Abkommen könnte als »kleine Verfassung« die Rechte von KünstlerInnen, KuratorInnen und Belegschaften von Kultureinrichtungen garantieren. Es könnte ebenso eine transparente Verteilung der von der Kultur erwirtschafteten Gewinne regeln. In Polen ist es gelungen, ein ähnliches Abkommen zwischen der Regierung und VertreterInnen der Kultur zu unterzeichnen.4 Demnach ist dieser Schritt möglich und notwendig, um die politische Eigenständigkeit zu erlangen, die die Kunst derzeit nicht hat.

 

Das Abkommen könnte in zwei Etappen angegangen werden:

1. Arbeit am Entwurf und Unterzeichnung desselben;

2. Arbeit an der Endfassung des Abkommens und Unterzeichnung.

Das Abkommen und seine Ratifizierung sollten für beide Vertragsparteien verbindlich sein, das Abkommen an sich sollte den Ausgangspunkt für weitere Debatten bilden. Aber wir müssen es schriftlich haben.

 

1 http://www.tagesspiegel.de/berlin/landespolitik/jedes-dritte-berliner-kind-lebt-von-hartz-iv/1577152.html (Zugriff am 29. August 2011).

 

2 http://www.spiegel.de/flash/flash-12125.html (Zugriff am 29. August 2011).

 

3 http://www.tagesspiegel.de/berlin/abstieg-west/3792272.html (Zugriff am 29. August 2011).

 

4 http: // www.berlinbiennale.de / blog / allgemein / pakt-fur-die-kultur-15071 (Zugriff am 29. August 2011).

 

 

Quelle: P/Act for Art: Berlin Biennale Zeitung

Kommentare

  1. Michael Springer

    In Berlin wird ein aufgeregte kulturpolitisch gefärbte Debatte um Kunst und Bildende Künstler geführt – die von Mißverständnissen, Suggestionen, kommunalpolitschen “Kleinzelheiten” und sehr speziellen individuellen Wünschen und Interessen geprägt ist.

    Ausgelöst wurde die neue Kunst-Debatte vor allem durch das unglückliche politische Setting und die Perzeptionen rund um den Begriff “Leistungsschau”. Ein Open-Call unter diesem Motto entstand – wie wir inzwischen wissen – als eine politische “Notlösung”, um eine Debatte um eine neue Kunsthalle in Berlin in Gang zu halten.

    Worum geht es in Berlin aber wirklich ?

    Hat Berlin wirklich einen “kunstverrückten” Bürgermeister, der sich mit einer Kunsthalle ein politisches Denkmal setzen wollte? War die “Leistungsschau” eine neoliberal inspirierte Wahlkampfidee? Gibt es ein tief gestörtes Verhältnis zwischen Kunst und kommunaler Kulturpolitik? Oder sind die Proteste der Künstler aus reiner Angst vor politischer Manipulation entstanden?

    Eines scheint festzustehen: es gibt eine tiefe Vertrauenskrise zwischen Künstlern und Institutionen. Und die nachfolgenden Debatte ist nun vor allem auf Vermutungen, Unterstellungen und Suggestionen gebaut.
    Und so entsteht daraus die starke Suggestion, man brauche einen neuen Vertrag zwischen Kunst & Politik.

    Wenn man aber alle Aufgeregtheiten zurückstellt, und sich in der Stadt genau umschaut, dann kann man etwas erblicken, das für diese Stadt, aber auch für die ganze Welt völlig neu ist:

    In Berlin findet eine neue “kreative Künstlerklasse” zusammen, die eine eigene Attraktivität und Urbanität erschafft, und rein zahlenmässig in eine soziale und intellektuelle Bedeutung hineinwächst.

    Über 8.000 Bildende Künstler finden sich in Berlin zusammen – und sie fordern mit Recht soziale Rechte und Partizipation ein – auch mehr Zuwendung, Anerkennung und auch mehr Geld.

    Aber Kunst selbst muss frei sein, und bleiben – darf sich nicht staatlich alimentieren und dirigieren lassen.

    Und so stellen sich weitergehende Fragen, was eigentlich Gegenstand eine solchen “P/Act for Art” sein könnte.

    In der Debatte wird bisher weitgehend verkannt und ausgeblendet, welche neuen Probleme und Nöte eine über alle Erwartungen hinaus gewachsene Kunstszene für sich selbst schafft: brutaler Wettbewerb um Raum, Kontakte und Publikum – um Kenner und Käufer.

    Dazu Verdrängung, Gentrifizierung und Prekarisierung – steigende Mieten als Knappheitsfolge – und ein erfolgreich angelocktes allgegenwärtiges Spekulationsinteresse.
    Kann all das durch klassische Kulturpolitik neu eingehegt werden, ein bischen sozial flankiert ausgeglichen werden, mit ein paar “Milliönchen” hier und ein paar „Projektchen“ dort?

    Ist nicht eine viel weitergehende Betrachtung notwendig?

    Ich möchte den Blick auf eine notwendige strukturelle Debatte lenken, die sich grundsätzlicher mit Fragen befasst, und nicht nur eine neue “sozialere Politikoberfläche”für de Kunst im Blick hat.

    Es geht auch um eine Krise der Kunst – es geht um ein Phänomen namens „Bilderflut“ – und um den einhergehenden Deutungs- und Bedeutungsverlust von Kunst. Es geht auch um Verlust künstlerischer Perspektiven – die ein “Zuviel” an Kunst hervorruft.

    Wie soll man auf Bilderflut, Marktselektion und Prekarisierung reagieren – wenn man eben keine neuen “Staatskünstler” als Kostgänger heranzüchten mag? Und wie soll das alles einem Markt überlassen werden, wenn dieser durch Umwertung und Gentrifizierung die subkulturelle Grundlage der Kunst immer wieder zerstört?

    Haben wir es nicht mit einer völlig neuen Situation zu tun? Stehen Bilderflut und Binnenkonkurrenzen in der Kunstszene nicht in einem Zusammenhang, den Politik auch mit noch so viel Geld nicht sozial abfedern kann?

    Und: haben wir wirklich 8.000 Bildende Künstler (Visual Artists) in der Stadt – oder sind es nur ein Zehntel, und die anderen halten ein großes Gespräch über Kunst einfach nur in Gang, um ihre Lebenssituation zu beschönigen?

    In der aktuellen Debatte entsteht bisweilen der Eindruck, künstlerische Tätigkeit sei selbst ein sozialer Zweck. Qualität und Ergebnisse künstlerischer Arbeit treten inzwischen weit dahinter zurück.

    Kunst und Kulturpolitik sind aber aber eben nicht Arbeitsmarktpolitik – und die Förderung künstlerischer Übungen ist zuerst Aufgabe der Bildungspolitik!

    Wenn man also einen P/Act for Art als neue Kulturpolitik fordert, dann müssen Perspektiven diskutiert werden, wohin und wofür eigentlich in Berlins Hochschulen der Künstlernachwuchs ausgebildet wird.

    Wo sollen auch Kunst und Künstler in einer Zeit überbordender Kunst streben, in der überall in der Stadt aus Ritzen, Wänden und Räumen neue Kunst strebt, die inzwischen selbst Parkscheinautomaten und Trafokästen als künstlerische Gestaltungsobjekte erfaßt?

    Wenn man verantwortlich und über den Tag hnaus denkt, dann muss in einer Stadt mit so vielen küsntlerischen Akteuren über völlig neue, zukunftsweisende Ideen und Strukturen geredet werden.

    Auch muß darüber nachgedacht werden, ob Berlin Fluchtort für Künstler wird – oder ob Kunst selbst über den Ort hinausweisen – und der Welt etwas bieten kann.

    Ganz neue Spielräume und Dimensionen der Entfaltung müssen geschaffen werden. Und: auch neue Fragen an ein Selbstverständnis und eine Selbstbehauptung der Künstler müssen entwickelt und gestellt werden.

    freundliche Grüße aus dem Helikopter
    Michael.Springer@gmx.de

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